“... Lesen schadet den Augen! ”

 

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                         In memoriam Horst Bingel  (1933- 2008)

 

                           Im Gedicht ruht die Liebe sich aus. (Horst Bingel)

     

      Horoskop

      Wenn der Himmel brennt,

      wird die Flamme den Tag anzünden,

      Feuer von Feuer.

       

      Wenn das Blatt sich rollt,

      wachsen in den Regenwolken stets

      Rosen von Rosen.

       

      Wenn der Winter friert,

      teilen im Luftballon die Toten

      Steine um Steine.

       

                                         aus:  Hahn (Hg.), Literatur in Frankfurt. Ein Lexikon zum Lesen, Athenäum Verlag 1987

                       *   

      Fata Morgana

      Eine kleine Insel

      auf der Tapete.

      Sie ist so gross,

      dass ich dort leben könnte.

       

      Eine strahlende Lampe

      auf der Tapete

      gibt das Licht

      meiner kleinen Insel.

       

      Ich lasse die Insel

      so wie sie ist.

      Ein Fleck

      in einer grauen

      Tapete.

       

        *                                  

          Illusion ist Trumpf

          Ein Lied aus Chile.

          Ein Tanz voller Glut.

          Spielkarten auf blanken Tischen

          klopfen den Takt

          dazu.

           

          Illusion ist Trumpf.

          Der Traum löst sich auf

          in einem alten

          Grammophon.

           

          Nur ein kleines Cafe

          am Rande des Alltags,

          und es ist immer

          besetzt.

       

                            aus:  Kleiner Napoleon (1956)  und Orte  118  Schweizer Literaturzeitschrift . Aug. 2000  S. 16

        *

    In dieser Stunde

    Heute redet einer:

    er sah zu,

    wie sie einen Menschen

    mordeten.

     

    Er spricht

    wie gestern.

    Niemand,

    der Einhalt gebietet.

     

    In diesem Moment

    werden Würfel gezählt.

    Niemand

    erfährt den Ausgang

    des Spiels.

                                              

     aus:   Auf der Ankerwinde zu Gast (1960);    Orte 118  Schweizer Literaturzeitschrift  S. 17,  Karlhans Frank(Hg.),

    Menschen sind Menschen. Überall. P.E.N. -Autoren  schreiben gegen Gewalt, C. Bertelsmann Taschenbuch, 2006

      *

            Ruderboot

            Warum steht die Sonne so hoch?

            Unsere fröhlichen Lieder bei Nacht

            erreichen nur den Mond.

            Die letzte Strassenbahn

            nahm unsere Heimkehr mit.

             

            Hast du die Fische gehört?

            Jeder erzählt

            an diesem Abend der Frau

            die Geschichte vom Mond.

            Hast du die Fische gehört?

             

            Und soeben im Sprung,

            als der Riemen einen Schlag lang

            über dem Wasser stand,

            hat die Fliege

            ihr Spiel begonnen.

             

            Schau, wie die Fliege springt,

            immer, wenn der Riemen

            aus dem Wasser taucht.

            Wir wollen aufhören zu rudern.

     

                                                       aus: Auf der Ankerwinde   (1956)  und  Orte 24. Jg. 118 Aug. 2000  S. 18

                                                    *   

          Liberté

          Im Atem, die

          Kälte, Verbrüderung im

          Rausche des Weins,

          die Operette, dein

          Liebling

          im Ohr,

          Fledermaus.

          Kälte

          wärmt.

           

          Stärker als Kälte

          trennt der Geschmack

          roter und weißer

          Beeren:

          quelle différence

          de bouquet

          heißer und

          kalter Marseillaisen.

           

          Ich liebe

          dich. im

          Internet den

          Kuss versteckt, eine

          einzige Fureur

          zwischen zwei

          Lippenpaaren, auf

          der Zunge die

          égalité.

           

          Ich brauche

          keinen Gerichtshof

          im Haag.

          Fraternité, im

          Wagon-lit, Patina.

          Im Regenbogen stets

          lachende  Menschen, die

          Fata Morgana

          Liberté.

 

             

            Gegend, austauschbar

            Diese Gegend ist

            mies wir haben viel Gemeinsames

            die Liebe zu Katzen und Hunden

            und die Unlust am Morgen wenn

            in dieser Gegend

            ein Mensch stirbt pflanzen

            sie Bäume der Tod

            ist nicht irgendwer

            gestern die Schule war gerade aus

            wurde ein Junge überfahren

            45 Minuten lag er

            auf dem Trottoir wenn ich nicht

            Angst hätte aufzufallen

            hätte ich dem Jungen

            eine Decke gebracht.

       

                                            (Erstmals veröffentlicht in  Lied für Zement, 1975;   Orte  Jg. 24   118 Aug. 2000 , S. 18)

 

 

                                   Stadtpark

            Noch ragt der Baum hinüber,

            über den See, den Platz,

            auf dem sie spielen,

            den Platz, auf dem sie

            Silhouetten bauen aus Stein

            und Beton und aus Stein.

             

            Lärm über den Strassen,

            auf Plätzen, Lärm und

            unmotiviertes Geschrei.

            Im Turm, im Turm

            in der Mitte der Stadt

            nisten die Stare und

            nicht mehr im Baum,

            die Stare, nicht mehr im

            Garten, im roten, im kleinen,

             

            und die Blumenfrau, der

            Brezeljunge tanzt heute,

            in der Mitte der Stadt

            und die Stare.

             

             Über das Brückengeländer, hinüber

            wirft der Junge den Stein

            gegen den Wind und wirft,

            wirft der Junge den Stein

            um die Wette der Junge mit dem Wind.

             

                             *                                    

            Litanei

            Wir haben unsere Felder verschenkt.

            Hinter den losen Fenstern

            nisten Wanzen.

             

            Reisst die Decken aus —

            Der Herr mit dem Schirm

            bleibt .lächerlich.

             

            Wir lieben zwischen Dosendeckeln

            und geben keine

            Erklärungen ab.

             

            Monsieur irren:

            „Sie dürfen wiederkommen,

            Sie sind unser Gast."

                                                                              aus:  Wir suchen Hitler   (1965)

     

      Geschichte

      Wir sassen im Weidenbaum, ich und ich,

      der Wind blieb im Regen, die Beute,

      die Toten im Sumpf,

      die Frösche

      schwiegen.

       

      Wir sassen im Weidenbaum, ich und ich,

      Vaters Schlachten, Mutters Trophäen,

      Jägers Hochsitz wir,

      die Eulen

      kamen.

       

      Wir sassen im Weidenbaum, ich und ich,

      die Hexe siegte im Knusperhaus,

      Vögel jubelten,

      Fingerlein

      gehenkt.

     

                            Erstveröffentlichung; Axel Kutsch (Hg.), Wortnetze. Neue Gedichte deutschsprachiger Autoren",  

                             Autoreninitiative Köln, Bergheim 1988; wieder abgedruckt in:  Orte 118  Jg. 24  Aug. 2000,  S. 30

                                                  *

                                 Steine

          Unter dem Strom lebst du, sing’ nicht, du hältst, schläfst

              du?

          Die Tage, dein Tedeum fliegt, vorbei, im Feuer, bleibst

              du,

          du häkelst noch, du, stets im Garn, siehst ein Gemäuer

              jetzt,

          setzt Stein auf Stein, schwörst ein den Namen,

          Erinnerung.

     

          Unter dem Strom stirbst du, dein Sog, stößt an, du nicht?

          Die Tage, in der Waage Licht, gebannt, aufgespießt, im

              Staub,

          du spinnst dich ein, nur Wasser hält, du packst dich fest,

              im Netz,

          klopfst Stein um Stein, kerbst ein den Namen,

          Erinnerung.

           

          Unter dem Strom bleibst du, du singst, im Holz, auf Grund?

          Die Tage, auf ewig im Flug, nichts steht, geronnen, im

              Sand,

          du schläfst fest, die Erde wächst, Kamele, im Horizont,

          du sitzt im Stein, nur Dünen atmen,

          Erinnerung.

                                       

                                       aus:   Orte  118, Schweizer Literaturzeitschrift 24. Jg. August 2000,  S. 31

                                                  R. Stäblein, C.Romahn, H. Kulessa(Hg.), Die Stadt am Fluss. Literaturstadt  

                                                  Frankfurt am Main.   Ein Lesebuch, suhrkamp taschenbuch, 2002

                                                     *

     

    In die Wand geschrieben

    Fahr aus, dein ist der Orkus, später erjage ich dich, die

      Schwüre, dein Leben, blank, du lachst doch nicht,

      das sind keine Tänze, du  liegst nicht im Bauch

      von  Paris,

    das ist ein Fisch, in dir, nur seine Spiele, er macht dich

      nieder, ohne Zaudern, das sind   die Meere, dich hält

      kein Netz,

    du warst dabei, du sprangst gleich auf, das war dein Blitz,

      deine Strände, du warst die Beute nicht, verrat’

      mich gleich,

    du liegst, in Netzen jetzt doch fest, die Beute, deine

      Felder, verbrannt, das Korn, im  Graben, ich,

      diese Kiemen,

    wir fangen dich.

     

    Such’ dich, unter dir dein Fisch, die Wolken, kein Tanz,

      höre den Spielmann, den Möwenschrei,  Rabenlied, ich höre

      dich,

     das ist dein Thron, das ist der Schlaf noch nicht, die

      Kiesel, kein Schrei, umsonst,

    du bist nicht tot, dein Leben, blank, du, ein Fisch, hier,

      schwimm‘ nicht, sie haben im Schlaf erst mich

      durchbohrt, Etüden,

    du hoffst, du,  Fisch, deine Gräten auf ihren Feldern, der

      Sturm, der Himmel, du, im Wind, nicht Mensch,

      du Fisch,

    wir jagen dich.

                                                                              

          

      Erstfassung s.: Axel Kutsch (Hg.), Wortnetze III. Neue Gedichte deutschspr. Autoren", Autoreninitiative Köln, Bergheim 1991)

       wieder abgedruckt in:  Orte 118   24. Jg. August 2000,  S. 32

              *

          9. November 1938

          Was du gesehen, deine Seele gefror, dein Vaterland, alles

              flog in Flammen dahin,

          was du gehört, Geschichte, du kanntest jetzt die Bilder,

              alles Sturm,

          was du geweint, es blieb der Frost, das Glas, du, das Kind,

              ein Zeuge,

          deine Beine.

           

          Was unter deinen Füssen war, das Glas, Hauch, dein Atem,

              Tränen,

          was du gewünscht, den Vater, groß, der Mutter Hände, der

              Nachbarn Tisch, jetzt   Beute,

          was du geträumt, gedacht, die Wünsche, gehängt, im

              Kinderbett, ein Zeuge,

          deine Beine.

     

    Erstfassung s.  Axel Kutsch (Hg.),  “Wortnetze III. Neue Gedichte deutschsprachiger Autoren",   Autoreninitiative Köln,

    Bergheim 1991); und  Orte  118   Aug. 2000  S. 33

          *

           

      Deutscher Herbst, 1989

      Sie rauben dir die Seele, jetzt, die Lust, sie rufen,

          meilenweit, schöner die  Glocken, im Wind,

      das Pflaster, die Straße, die Faust, die Bombe, die Fenster

          aufgebrochen, die  Menschen tragen Kerzen, nun,  die

          Menschen, der Wind, der sie treibt, der Ball, die

          Mörder, die Kinder, auf einer Bahre, auferstanden,

      im Rabenschrei, die Pferde, im Sturz, im Flug noch, geborgen,

          die Kirche, unter den Brücken, schwarz, im Strom,

          der Schrei,  die Sirenen, schweigen,

      sie brennen dir diese Stadt in die Haut, das Kutschenrad, die

          Speichen, deine Knochen, gestreckt, zum Kranz dir  

          geflochten, das Holz, morsch, du, in der Marter

          auferstanden, niemand, der deine Seele raubt, die

          Hölle, abgebrannt,  meilenweit.

 

                               *

      Erstfassung s. Helmut Steinhaussen (Hg.),  Mein Thüringen.. Impressionen und Erinnerungen, Greifenverlag, Rudolstadt 1992

    und  Orte 118  Aug. 2000  S. 36

                                                                               *

        Aufs Rad geflochten

        Du hörst das Meer in dir, das alles treibt, die Toten,

            eingekrallt, die Mauern, die Häuser, die du

            fallen sahst, die Wände, in  die Nacht  gemalt,

            Fenster, die Rahmen noch herausgebrochen,

        dich meiden Vögel, Sonne, Menschen, blind, du bist, ein

            Stein, die Ohren tief schon im Beton, die Blumen,

            jemand reicht sie  nach. Was ist das? Die Boten,

            aus der Toten Welt, die Erde,

        das war es also, du ranntest schneller noch, der Nebel

            dick, du hörst die Schreie stets, tief, unter

            deinen Füssen, du hast sie alle doch gehängt, ein

            stummes Zucken, fest eingekerbt, in jeder Nacht.

        Was wirst du tun? Der Stein im Schuh, es war dein Tisch, an

            dem sie saßen, die du zur Bahn gebracht, zum

            Viehwaggon, der  Wind kennt ihre Namen,

        die Kinder stehen auf, du hältst dir jetzt die Ohren zu,

            das nicht, der Schornstein, der den Himmel fraß,

            wir sehen dich, der Stein, der deinen Namen

            trägt, der Spiegel, Scherben, die Erde,

            aufgerissen,

        du, Vater, Mutter, du hieltst mich an der Hand, ihr habt

            gar nichts gesehen, und wir, Schimären gleich,

            im Rauch, Gespenster doch, zu Stein gefroren,

        ich hab in jeder Nacht noch Angst, ich sah nicht weg, die

            Henker, die Kapuzen fielen,

        ich saß im Keller, im Ohr, die Bomben. Ich hab die

            Menschen mit dem gelben Stern gesehen.

        Sie winkten nicht.

     

            Erstveröffentlichung: Axel Kutsch  (Hg.),  ZEHN. Neue Gedichte deutschsprachiger Autor(inn)en", 

           Autoreninitiative Köln, Bergheim 1993)   und  Orte  118  S. 2000  Nr. 37

                                                                                 *

        Taube

        Du triffst die Taube im Flug, sie ist nicht blau, was

            staunst du, sie ist nicht blau,

        die Taube sitzt rot schon tief im Horizont, sie wartet mit

            dir, bei Tag, nachts, sie spreizt ihr Gefieder,

            sie wartet,

        sie wartet doch nicht.

         

        Du siehst die Taube so nah, sie ist jetzt dein, was staunst

            du, sie ist doch dein,

        die Taube spitzt ewig scharf deinen Schnabel, hinter dem

            Horizont, bei Nacht, tags, sie spitzt ihn ja dir,

            sie fliegt nur,

        sie fliegt stets allein.

         

        Du hörst die Taube im Flug, sie bleibt dein Schatten, was

            staunst du, sie grüßt nicht,

        die Taube ist nun arg bunt im Horizont, sie ist sonst gar

            nichts, bei Tag, nachts, doch hinter dem Regen,

            sie trägt dich,

        sie trägt dich im Kopf.

     

                               Erstveröffentlichung: Orte Nr. 104 Literaturzeitschrift , 1997 ; Orte  118  Jg. 24 August 2000, S. 43

                  *

          Im Angesicht

          Die Erde gehört dir nicht, der Acker nicht, du im Lehm,

              halt’ ein, du stürzt doch nicht,  du stichst sie

              an, du spiesst sie auf,   du reichst deine Hand,

          die Erde trägt dich fort, sie gibt dich ab, sie, sie

              zaubert, du machst die Augen zu, die Erde fliegt,

              du, du an Deck,

          du jagst doch nicht.

           

          Du hast die Erde nicht verbrannt, die Feuer dir entfacht,

              hast sie verkauft, geschunden,  im Beton erwürgt,

              du, du im Pferd,  im Maul, der Zaum,

          du hast die Erde nicht gekannt, du, im Gebiß, im Lassowurf,

              die Bäume, sie warten, dich, dich trifft nicht

              mal der Tod,

          dein Schritt trägt leicht.

           

          Die Erde hält dich fest, du stirbst ja so schnell, wir

              neben dir, im Wind, sieh, der Galgen, dort im

              Boden wächst, ihre Grüsse,   dir bleibt fast nichts, 

          die Erde lässt stets dich heiter sein, du schläfst, Eis,

              nichts kümmert dich, die Erde wächst, die Bäume,

              wir, wir tragen dich,

          du merkst es nicht.

               

     Veröffentlichung: Literaturzeitschrift  Orte  Nr. 115, 1999;  Orte  118  Jg. 24 August 2000,  S.  44

            Ruth Fühner (Hg.), Hinter Frankfurt das Meer,  Societäts Verlag, Frankfurt/Main, 2005

           

    Wieder erschienen in: Horst Bingel, Den Schnee besteuern.. Gedichte.  Oberegg AI und Zürich 2009   sind u.a.:

    Stadtpark (S. 7) - Im Angesicht  (S. 10) -  Gegend, austauschbar  (S. 12) - Fata Morgana (S. 14) - In dieser Stunde

     (S. 20)  - Horoskop (S. 28) - Aufs Rad geflochten (S. 44) - Taube (S. 62) - In den Wind geschrieben (S. 64)

     

                                     Alle Rechte liegen bei Frau Barbara Bingel.

                    Ich danke Frau Bingel sehr herzlich für die Möglichkeit, mit diesen Gedichten und dem Portrait,  

                    aufgenommen von der  Fotografin  Irene Bossardt, an den verstorbenen Autor zu erinnern.

     

              

> PDF - Version:  In memoriam Horst Bingel                       > Fragegedicht: Wir suchen Hitler                  

                                                                                              > Die Stunde Null in der Lyrik