|
Im Gedicht ruht die Liebe sich aus. (Horst Bingel)
Horoskop
Wenn der Himmel brennt,
wird die Flamme den Tag anzünden,
Feuer von Feuer.
Wenn das Blatt sich rollt,
wachsen in den Regenwolken stets
Rosen von Rosen.
Wenn der Winter friert,
teilen im Luftballon die Toten
Steine um Steine.
aus: Hahn (Hg.), Literatur in Frankfurt. Ein Lexikon zum Lesen, Athenäum Verlag 1987
*
Fata Morgana
Eine kleine Insel
auf der Tapete.
Sie ist so gross,
dass ich dort leben könnte.
Eine strahlende Lampe
auf der Tapete
gibt das Licht
meiner kleinen Insel.
Ich lasse die Insel
so wie sie ist.
Ein Fleck
in einer grauen
Tapete.
In dieser Stunde
Heute redet einer:
er sah zu,
wie sie einen Menschen
mordeten.
Er spricht
wie gestern.
Niemand,
der Einhalt gebietet.
In diesem Moment
werden Würfel gezählt.
Niemand
erfährt den Ausgang
des Spiels.
aus: Auf der Ankerwinde zu Gast (1960); Orte 118 Schweizer Literaturzeitschrift S. 17, Karlhans Frank(Hg.),
Menschen sind Menschen. Überall. P.E.N. -Autoren schreiben gegen Gewalt, C. Bertelsmann Taschenbuch, 2006
*
Ruderboot
Warum steht die Sonne so hoch?
Unsere fröhlichen Lieder bei Nacht
erreichen nur den Mond.
Die letzte Strassenbahn
nahm unsere Heimkehr mit.
Hast du die Fische gehört?
Jeder erzählt
an diesem Abend der Frau
die Geschichte vom Mond.
Hast du die Fische gehört?
Und soeben im Sprung,
als der Riemen einen Schlag lang
über dem Wasser stand,
hat die Fliege
ihr Spiel begonnen.
Schau, wie die Fliege springt,
immer, wenn der Riemen
aus dem Wasser taucht.
Wir wollen aufhören zu rudern.
|
Stadtpark
Noch ragt der Baum hinüber,
über den See, den Platz,
auf dem sie spielen,
den Platz, auf dem sie
Silhouetten bauen aus Stein
und Beton und aus Stein.
Lärm über den Strassen,
auf Plätzen, Lärm und
unmotiviertes Geschrei.
Im Turm, im Turm
in der Mitte der Stadt
nisten die Stare und
nicht mehr im Baum,
die Stare, nicht mehr im
Garten, im roten, im kleinen,
und die Blumenfrau, der
Brezeljunge tanzt heute,
in der Mitte der Stadt
und die Stare.
Über das Brückengeländer, hinüber
wirft der Junge den Stein
gegen den Wind und wirft,
wirft der Junge den Stein
um die Wette der Junge mit dem Wind.
*
Litanei
Wir haben unsere Felder verschenkt.
Hinter den losen Fenstern
nisten Wanzen.
Reisst die Decken aus —
Der Herr mit dem Schirm
bleibt .lächerlich.
Wir lieben zwischen Dosendeckeln
und geben keine
Erklärungen ab.
Monsieur irren:
„Sie dürfen wiederkommen,
Sie sind unser Gast."
aus: Wir suchen Hitler (1965)
Geschichte
Wir sassen im Weidenbaum, ich und ich,
der Wind blieb im Regen, die Beute,
die Toten im Sumpf,
die Frösche
schwiegen.
Wir sassen im Weidenbaum, ich und ich,
Vaters Schlachten, Mutters Trophäen,
Jägers Hochsitz wir,
die Eulen
kamen.
Wir sassen im Weidenbaum, ich und ich,
die Hexe siegte im Knusperhaus,
Vögel jubelten,
Fingerlein
gehenkt.
Erstveröffentlichung; Axel Kutsch (Hg.), Wortnetze. Neue Gedichte deutschsprachiger Autoren",
Autoreninitiative Köln, Bergheim 1988; wieder abgedruckt in: Orte 118 Jg. 24 Aug. 2000, S. 30
*
Steine
Unter dem Strom lebst du, sing’ nicht, du hältst, schläfst
Die Tage, dein Tedeum fliegt, vorbei, im Feuer, bleibst
du häkelst noch, du, stets im Garn, siehst ein Gemäuer
setzt Stein auf Stein, schwörst ein den Namen,
Erinnerung.
Unter dem Strom stirbst du, dein Sog, stößt an, du nicht?
Die Tage, in der Waage Licht, gebannt, aufgespießt, im
du spinnst dich ein, nur Wasser hält, du packst dich fest,
klopfst Stein um Stein, kerbst ein den Namen,
Erinnerung.
Unter dem Strom bleibst du, du singst, im Holz, auf Grund?
Die Tage, auf ewig im Flug, nichts steht, geronnen, im
du schläfst fest, die Erde wächst, Kamele, im Horizont,
du sitzt im Stein, nur Dünen atmen,
Erinnerung.
aus: Orte 118, Schweizer Literaturzeitschrift 24. Jg. August 2000, S. 31
R. Stäblein, C.Romahn, H. Kulessa(Hg.), Die Stadt am Fluss. Literaturstadt
Frankfurt am Main. Ein Lesebuch, suhrkamp taschenbuch, 2002
*
In die Wand geschrieben
Fahr aus, dein ist der Orkus, später erjage ich dich, die
Schwüre, dein Leben, blank, du lachst doch nicht,
das sind keine Tänze, du liegst nicht im Bauch
von Paris,
das ist ein Fisch, in dir, nur seine Spiele, er macht dich
nieder, ohne Zaudern, das sind die Meere, dich hält
kein Netz,
du warst dabei, du sprangst gleich auf, das war dein Blitz,
deine Strände, du warst die Beute nicht, verrat’
mich gleich,
du liegst, in Netzen jetzt doch fest, die Beute, deine
Felder, verbrannt, das Korn, im Graben, ich,
diese Kiemen,
wir fangen dich.
Such’ dich, unter dir dein Fisch, die Wolken, kein Tanz,
höre den Spielmann, den Möwenschrei, Rabenlied, ich höre
dich,
das ist dein Thron, das ist der Schlaf noch nicht, die
Kiesel, kein Schrei, umsonst,
du bist nicht tot, dein Leben, blank, du, ein Fisch, hier,
schwimm‘ nicht, sie haben im Schlaf erst mich
durchbohrt, Etüden,
du hoffst, du, Fisch, deine Gräten auf ihren Feldern, der
Sturm, der Himmel, du, im Wind, nicht Mensch,
du Fisch,
wir jagen dich.
Erstfassung s.: Axel Kutsch (Hg.), Wortnetze III. Neue Gedichte deutschspr. Autoren", Autoreninitiative Köln, Bergheim 1991)
wieder abgedruckt in: Orte 118 24. Jg. August 2000, S. 32
9. November 1938
Was du gesehen, deine Seele gefror, dein Vaterland, alles
was du gehört, Geschichte, du kanntest jetzt die Bilder,
was du geweint, es blieb der Frost, das Glas, du, das Kind,
deine Beine.
Was unter deinen Füssen war, das Glas, Hauch, dein Atem,
was du gewünscht, den Vater, groß, der Mutter Hände, der
was du geträumt, gedacht, die Wünsche, gehängt, im
deine Beine.
Erstfassung s. Axel Kutsch (Hg.), “Wortnetze III. Neue Gedichte deutschsprachiger Autoren", Autoreninitiative Köln,
Bergheim 1991); und Orte 118 Aug. 2000 S. 33
Deutscher Herbst, 1989
Sie rauben dir die Seele, jetzt, die Lust, sie rufen,
das Pflaster, die Straße, die Faust, die Bombe, die Fenster
aufgebrochen, die Menschen tragen Kerzen, nun, die
Menschen, der Wind, der sie treibt, der Ball, die
Mörder, die Kinder, auf einer Bahre, auferstanden,
im Rabenschrei, die Pferde, im Sturz, im Flug noch, geborgen,
die Kirche, unter den Brücken, schwarz, im Strom,
der Schrei, die Sirenen, schweigen,
sie brennen dir diese Stadt in die Haut, das Kutschenrad, die
Speichen, deine Knochen, gestreckt, zum Kranz dir
geflochten, das Holz, morsch, du, in der Marter
auferstanden, niemand, der deine Seele raubt, die
Hölle, abgebrannt, meilenweit.
Erstfassung s. Helmut Steinhaussen (Hg.), Mein Thüringen.. Impressionen und Erinnerungen, Greifenverlag, Rudolstadt 1992
und Orte 118 Aug. 2000 S. 36
*
Aufs Rad geflochten
Du hörst das Meer in dir, das alles treibt, die Toten,
eingekrallt, die Mauern, die Häuser, die du
fallen sahst, die Wände, in die Nacht gemalt,
Fenster, die Rahmen noch herausgebrochen,
dich meiden Vögel, Sonne, Menschen, blind, du bist, ein
Stein, die Ohren tief schon im Beton, die Blumen,
jemand reicht sie nach. Was ist das? Die Boten,
aus der Toten Welt, die Erde,
das war es also, du ranntest schneller noch, der Nebel
dick, du hörst die Schreie stets, tief, unter
deinen Füssen, du hast sie alle doch gehängt, ein
stummes Zucken, fest eingekerbt, in jeder Nacht.
Was wirst du tun? Der Stein im Schuh, es war dein Tisch, an
dem sie saßen, die du zur Bahn gebracht, zum
Viehwaggon, der Wind kennt ihre Namen,
die Kinder stehen auf, du hältst dir jetzt die Ohren zu,
das nicht, der Schornstein, der den Himmel fraß,
wir sehen dich, der Stein, der deinen Namen
trägt, der Spiegel, Scherben, die Erde,
aufgerissen,
du, Vater, Mutter, du hieltst mich an der Hand, ihr habt
gar nichts gesehen, und wir, Schimären gleich,
im Rauch, Gespenster doch, zu Stein gefroren,
ich hab in jeder Nacht noch Angst, ich sah nicht weg, die
ich saß im Keller, im Ohr, die Bomben. Ich hab die
Sie winkten nicht.
Erstveröffentlichung: Axel Kutsch (Hg.), ZEHN. Neue Gedichte deutschsprachiger Autor(inn)en",
Autoreninitiative Köln, Bergheim 1993) und Orte 118 S. 2000 Nr. 37
*
Taube
Du triffst die Taube im Flug, sie ist nicht blau, was
die Taube sitzt rot schon tief im Horizont, sie wartet mit
dir, bei Tag, nachts, sie spreizt ihr Gefieder,
sie wartet,
sie wartet doch nicht.
Du siehst die Taube so nah, sie ist jetzt dein, was staunst
die Taube spitzt ewig scharf deinen Schnabel, hinter dem
Horizont, bei Nacht, tags, sie spitzt ihn ja dir,
sie fliegt nur,
sie fliegt stets allein.
Du hörst die Taube im Flug, sie bleibt dein Schatten, was
die Taube ist nun arg bunt im Horizont, sie ist sonst gar
nichts, bei Tag, nachts, doch hinter dem Regen,
sie trägt dich,
sie trägt dich im Kopf.
Erstveröffentlichung: Orte Nr. 104 Literaturzeitschrift , 1997 ; Orte 118 Jg. 24 August 2000, S. 43
Im Angesicht
Die Erde gehört dir nicht, der Acker nicht, du im Lehm,
halt’ ein, du stürzt doch nicht, du stichst sie
an, du spiesst sie auf, du reichst deine Hand,
die Erde trägt dich fort, sie gibt dich ab, sie, sie
du jagst doch nicht.
Du hast die Erde nicht verbrannt, die Feuer dir entfacht,
hast sie verkauft, geschunden, im Beton erwürgt,
du, du im Pferd, im Maul, der Zaum,
du hast die Erde nicht gekannt, du, im Gebiß, im Lassowurf,
dein Schritt trägt leicht.
Die Erde hält dich fest, du stirbst ja so schnell, wir
neben dir, im Wind, sieh, der Galgen, dort im
Boden wächst, ihre Grüsse, dir bleibt fast nichts,
die Erde lässt stets dich heiter sein, du schläfst, Eis,
du merkst es nicht.
Veröffentlichung: Literaturzeitschrift Orte Nr. 115, 1999; Orte 118 Jg. 24 August 2000, S. 44
Ruth Fühner (Hg.), Hinter Frankfurt das Meer, Societäts Verlag, Frankfurt/Main, 2005
Wieder erschienen in: Horst Bingel, Den Schnee besteuern.. Gedichte. Oberegg AI und Zürich 2009 sind u.a.:
Stadtpark (S. 7) - Im Angesicht (S. 10) - Gegend, austauschbar (S. 12) - Fata Morgana (S. 14) - In dieser Stunde
(S. 20) - Horoskop (S. 28) - Aufs Rad geflochten (S. 44) - Taube (S. 62) - In den Wind geschrieben (S. 64)
Alle Rechte liegen bei Frau Barbara Bingel.
Ich danke Frau Bingel sehr herzlich für die Möglichkeit, mit diesen Gedichten und dem Portrait,
aufgenommen von der Fotografin Irene Bossardt, an den verstorbenen Autor zu erinnern.
|