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  Lesen schadet den Augen

 

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                                                  Der Ich-Erzähler

                                                  in der deutschen Literatur  

                                             Kleine Theorie und reichlich Beispiele

Theorie;

Eine Figur als Ich-Erzähler tritt in einer Geschichte in doppelter Funktion an den Leser heran, als eine Person, die den Stoff erzähltechnisch, also handwerklich vermittelt, und als ein Medium, das neben der Vermittlungsform auch Bestandteil der Handlung selbst ist, das die Sache erlebt erliebt und sogar erlitten hat.

Der innere Abstand zum Erzählten kann verschieden sein:

- der Erzähler will sich das Erzählte von der Seele schreiben, er scheint mit der Geschichte zu verschmelzen, wird eins mit seiner Erzählfigur (also personal mit ihm verschwistert)  und für den Leser fällt es schwer, zwischen dem Erzähler und der erzählten Figur des Geschehens zu trennen. (Vielleicht ist das Absicht des Autors.) 

- Denkbar ist auch, dass der Erzähler aus großer zeitlicher Distanz den Leser an das Geschehen heranführt und dass er durch Kommentierungen und Wertungen fortlaufend auf seine innere Distanz zur Handlung hinweist. (Das Geschehen ist ihm peinlich. Er möchte es am liebsten ungeschehen machen. Er behauptet  sogar, dass ihm Ähnliches nicht mehr wieder geschehen könnte, er beruft sich auf Einsicht und Altersweisheit, und der Leser lässt sich vielleicht davon überzeugen und bleibt wie der Erzähler auf innerer Distanz: verrückter Kerl, Idiot, das hätte mir nie .. usw.   – Von erhöhtem Standort aus (also  auktorial) blickt der Erzähler auf das vergangene Geschehen herunter und lässt sich herab, dieses huldvoll, süffisant, stirnrunzelnd, Offensichtliches verschleiernd und verdrängend, oder gar  abfällig, gehässig usw.  gedanklich, d. m. erzähltechnisch zu begleiten.

 

              Beispiel 1: Debüt-Roman

               

                         Knackarscherzähler. Auf der Suche nach verlorener Redezeit

 

Lieber Leser –

Was ich dir hier erzählen werde, hat sich niemals so zugetragen, ist völlig frei erfunden, wirkt an mehreren Stellen der kommenden 900 Seiten unglaubwürdig, bis ins Groteske überzogen  und sein Autor genießt obendrein noch den Ruf – von Genuss zu sprechen ist im Grunde eh schon eine Unverschämtheit -, ein Trinker, Raufbold, Pennbruder, Frauengrapscher und so weiter usw. usw. …und dererlei noch mehr …, sodass eigentlich in jeder Hinsicht von einer weiteren Lektüre der folgenden Zeilen, und es werden viele sein, da der Verfasser kaum mal in der Lage ist, seine verbalen Redeorgasmen zu bremsen, es sei denn, man nehme ihm den Kugelschreiber oder ziehe das Stromkabel aus der Steckdose, das diesem Schreiberling Saft für den ausstehenden Unsinn … und dazu obendrein in die Tastatur eines veralteten Rechners liefert,  ungeachtet der Schwierigkeiten, die auch sein gutwilligster zukünftiger Leser ihm entgegenzubringen gewillt sein wird. Was soll das also, bin ich Erzähler, bin ich Autor mit verlorener Unschuld, bin ich nicht mal in der Lage, eine schlichte und glatte Geschichte zu erfinden oder aus der Erinnerung abzurufen und sei es auch nur aus der Erinnerung an das, was ihm andere erzählt haben, erzählen wollten, erzähltechnisch verweigern wollten, von befremdlichem Erzählstandort aus…. einem Ort, einem kleinen stillen Örtchen anderer, Papier ist ja wohl ausreichend da, das mag stimmen, aber Strom ... Erzählstrom, stream of coincidence, stream  der Inkontinenz, of consciousness .. die der anderen, die anderer, vielleicht seiner Leser… unverfroren.. unverschämt, man müsste vor Scham in den …    … bodenlos…bewusstlos..

Darüber hinaus ist der Autor hier sich nicht einmal schlüssig, in welcher Erzählungsweise die vorgelegte Geschichte überhaupt angemessen zur Wirklichkeit kommen könnte, ob ein Ich- oder Er-Erzähler im bereits schon Monate begonnenen 21. Jahrhundert die richtige Sprechweise sein kann, um den Leser und den mit ihm zu bedenkenden Büchermarkt so beeinflussen zu können, dass  bla, bla bla, …. Ja, hat der denn wohl einen an der Waffel ......  ist der denn …     Der soll mir doch mal, der soll doch woanders seine experimentelle Autorenunschuld verlieren, ist das hier ein Debütroman .. ist der hier für Klagenfurt angeworben........... nein, so geht es nun wirklich nicht. – Das mache ich nicht mehr mit, mit diesem Erzähler...

                                                           Ach, so herkömmlich will ich mich dir doch nicht anbiedern, geneigter Leser, der du bescheuert genug genannt werden darfst, wenn du diesem altbackenen Erzählstil bis zu diesem Satz gefolgt sein solltest. – Ich habe dir überhaupt nichts zu erzählen: Keiner wird auf den nächsten Seiten von mir im Gebüsch gefundenen werden, mit durchschnittener Kehle und geöffnetem Hosenlatz. Keiner wird meine verlorene Kindheit ans Licht zerren, um einem gutwilligen Zuhörer einen Vergleichsmaßstab eigener Vergesslichkeiten zu liefern; auch liefert hier kein pubertierender Akademiker einen Blick in  den Anfang eines Fragment gebliebenen Schlüsselromans; auch erlebt keine Referendarin einen körperlich ungeplanten Schweißausbruch beim Betreten des Klassenzimmers in Neukölln, das ich eh nicht kenne und nie aus eigener Anschauung wahrgenommen habe, mit dem Festhalten meiner hier vorliegenden warmen und dörflichen Frühlingswirklichkeit schon ausreichend überfordert.  All das ist dem Erzähler – könnte es wirklich ein Autor sein, der sich stilistisch mit perverser Schlüpfrigkeit getarnt hat – nonsence, verbal, Unfug, lass es doch ungeliebter Leser, lass es doch Autor, wer will schon hören oder lesen oder rekonstruieren, wie sich hier ein Medium im Unterholz einer noch nicht festgelegten Erzählsituation verirrt, zumal , usw. .. usw.  verweigert…

 ..........… ja zum Kotzen … lieber Rezensent, lieber Kritiker, da biete ich Ihnen jetzt mal eine Angriffsfläche, liebe Moderatorin publikumsorientierter Geschmäcklichkeiten. …. liebe Frau  Hei…äh äh  äaa … Da sage ich dir jetzt einmal vorerst Adieu, Leser, bye bye, auf ungut Deutsch: Verpiss dich, alter Sack, lies was anderes, ich habe keine Lust, dir in deine vielleicht  verstöpselten Ohren schriftstellerisch Unvollkommnes zu versäuseln. Halt dich gerade, aber mach dich vom Acker - --- Nichts für ungut – ich wünsch dir die Krätze an den Hals. (Krätze? Was ist das denn, das kennt doch nur einer wie ich, der sich noch an Roswitha aus Berlin und die Kinderlandverschickung der 40-Jahre autobiographisch erinnern kann. Aber will ich das denn überhaupt – wozu die Syntax bemühen, die Schreibweise, in der ganz ohne Frage eine mehr als bakterielle Verseuchung steckt --- die sollte man mal ganz energisch verschicken,,, Ach ja……., Roswitha, du kleine …….)     Autor? ... Ja, mein Leser? ...  Ja, mein Erzähler.....  Bin ich schon so weit heruntergekommen, dass du dich bei mir ...

So, das ist nun also ein Ich-Erzähler, das merkt man doch, oder? Und was hat er nun erzählt? Lohnt es sich denn… Oder doch mal wieder ganz anders, wie schon Tausende vor mir, ganz auktorial …  ganz professionell personal reduziert auf mein Hirn und was sich dort an Kümmerlichkeiten von Stoff und Materieabschöpfung gesammelt hat…  Sollen wir alle durcheinander wie in den Hundejahren, sollen die Scheuchen erst einmal vertrieben werden, bevor hier ein zukünftiger Autor einem Erzähler Raum gibt für sein comming out …                                       So alt wie ich bin: 18, 20, 2, .. 4, …Grand Hand oder …ach, schon wieder überrissen, Null ouvert, da bin ich der Mann für .. .. Null ouvert mit gedrückten Buben und dann am Ende .. Gelächter Schenkel klopfen, ..Herr, Wirt, noch mal eine Runde für unsern Jüngsten, den Knackarscherzähler, der will noch mal, der will auch mal ran an die Mutter, der will auch mal an die Tröge bevor er ins Gras beißt ,.. wirts bald ..  …. ach, ja das ist wohl ein Wortspiel, lieber Erzähler, da hat dir der Autor aber was ganz Blindes  aufs Auge gedrückt, ins Mündchen  gelegt…

So geht’s doch heute nicht mehr, so kann man doch nicht .. nicht mehr.. so doch heute nicht mehr … ach, was soll , was soll der Jung, was soll der Jung bloß….. was soll daraus im Ernst bloß mal werden ….                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Lyrikschadchen  als Ich-Erzähler  ©   05/  2007

                                                 *

                                Beispiel 2  Autobiographischer Roman

 

Theodor Fontane  (1819 – 1898)

Meine Kinderjahre

VORWORT

Als mir es feststand, mein Leben zu beschreiben, stand es mir auch fest, daß ich bei meiner Vorliebe für Anekdotisches und mehr noch für eine viel Raum in Anspruch nehmende Kleinmalerei mich auf einen bestimmten Abschnitt meines Lebens zu beschränken haben würde. Denn mit mehr als einem Bande herauszutreten, wollte mir nicht rätlich erscheinen. Und so blieb denn nur noch die Frage, welchen Abschnitt ich zu bevorzugen hätte..

Nach kurzem Schwanken entschied ich mich, meine Kinder jähre zu beschreiben, also to begin with the beginning«. Ein verstorbener Freund von mir (noch dazu Schulrat) pflegte Jungverheirateten Damen seiner Bekanntschaft den Rat zu geben, Aufzeichnungen über das erste Lebensjahr ihrer Kinder zu machen, in diesem ersten Lebensjahre stecke der ganze Mensch. Ich habe diesen Satz bestätigt gefunden, und wenn er mehr oder weniger auf Allgemeingültigkeit Anspruch hat, so darf vielleicht auch diese meine Kindheitsgeschichte als eine Lebensgeschichte gelten. Entgegengesetztenfalls verbliebe mir immer noch die Hoffnung, in diesen meinen Aufzeichnungen wenigstens etwas Zeitbildliches gegeben zu haben: das Bild einer kleinen Ostseestadt aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts und in ihr die Schilderung einer noch ganz von Retugie-Traditionen erfüllten Französischen-Kolonie-Familie, deren Träger und Repräsentanten meine beiden Eltern waren. Alles ist nach dem Leben gezeichnet. Wenn ich troizdem, vorsichtigerweise, meinem Buche den Nebentitel eines »autobiographischen Romanes« gegeben habe, so hat dies darin seinen Grund, daß ich nicht von einzelnen aus jener Zeit her vielleicht noch Lebenden auf die Echtheitstrage hin interpelliert werden möchte. Für etwaige Zweitier also sei es Roman!                                                                                                                     

ERSTES KAPITEL

Meine Eltern

An einem der letzten Märztage des Jahres 1819 hielt eine Halbchaise vor der Löwen-Apotheke in Neu-Ruppin, und ein junges Paar, von dessen gemeinschaftlichem Vermögen die Apotheke kurz vorher gekauft worden war, entstieg dem Wagen und wurde von dem Hauspersonal empfangen. Der Herr - man heiratete damals (unmittelbar nach dem Kriege) sehr früh - war erst dreiundzwanzig, die Dame einundzwanzig Jahr alt. Es waren meine Eltern. (…)

                  *

          Beispiel 3 - Entwicklungsroman

               

Gottfried Keller  (1819 – 1890) 

Der grüne Heinrich (2. Fassung – 1871/ 80)

Erstes Kapitel

Lob des Herkommens

Mein Vater war ein Bauernsohn aus einem uralten Dorfe, welches seinen Namen von dem Alemannen erhalten hat, der zur Zeit der Landteilung seinen Spieß dort in die Erde steckte und einen Hof baute. Nachdem im Verlauf der Jahrhunderte das namengebende Geschlecht im Volke verschwunden, machte ein Lehenmann den Dorfnamen zu seinem Titel und baute ein Schloß, von dem niemand mehr weiß, wo es gestanden hat; ebenso wenig ist bekannt, wann der letzte »Edle« jenes Stammes gestorben ist. Aber das Dorf steht noch da, seelenreich und belebter als je, während ein paar Dutzend Zunamen unverändert geblieben und für die zahlreichen, weltläufigen Geschlechter fort und fort ausreichen müssen. Der kleine Gottesacker, welcher sich rings an die trotz ihres Alters immer weiß geputzte Kirche legt und niemals erweitert worden ist, besteht in seiner Erde buchstäblich aus den aufgelösten Gebeinen der vorübergegangenen Geschlechter; es ist unmöglich, daß bis zur Tiefe von zehn Fuß ein Körnlein sei, welches nicht seine Wanderung durch den menschlichen Organismus gemacht und einst die übrige Erde mit umgraben geholfen hat. Doch ich übertreibe und vergesse die vier Tannenbretter, welche jedesmal mit in die Erde kommen und den ebenso alten Riesengeschlechtern auf den grünen Bergen rings entstammen; ich vergesse ferner die derbe ehrliche Leinwand der Grabhemden, welche auf diesen Fluren wuchs, gesponnen und gebleicht wurde, und also so gut zur Familie gehört, wie jene Tannenbretter, und nicht hindert, daß die Erde unseres Kirchhofes so schön kühl und schwarz sei, als irgendeine. Es wächst auch das grüne Gras darauf, und die Rosen nebst dem Jasmin wuchern In göttlicher Unordnung und Überfülle, so daß nicht einzelne Stäudlein auf ein frisches Grab gesetzt, sondern das Grab muß in den Blumenwald hineingehauen werden, und nur der Totengräber kennt genau die Grenze in diesem Wirrsal, wo das frisch umzugrabende Gebiet anfängt.

Das Dorf zählt kaum zweitausend Bewohner, von welchen je ein paar hundert den gleichen Namen führen; aber höchstens zwanzig bis dreißig von diesen pflegen sich Vetter zu nennen, well die Erinnerungen selten bis zum Urgroßvater hinaufsteigen. Aus der unergründlichen Tiefe der Zeiten an das Tageslicht gestiegen, sonnen sich diese Menschen darin, so gut es gehen will, rühren sich und wehren sich ihrer Haut, um wohl oder wate wieder in der Dunkelheit zu verschwinden, wenn ihre Zeit gekommen ist. Wenn sie ihre Nasen in die Hand nehmen, so sind sie sattsam überzeugt, daß sie eine ununterbrochene Reihe von zweiunddreißig Ahnen besitzen müssen, und anstatt dem natürlichen Zusammenhange derselben nachzuspüren, sind sie vielmehr bemüht, die Kette ihrerseits nicht ausgehen zu lassen. So kommt es, daß sie alle möglichen Sagen und wunderlichen Geschichten ihrer Gegend mit der größten Genauigkeit erzählen können, ohne zu wissen, wie es zugegangen ist, daß der Großvater die Großmutter nahm. Alle Tugenden glaubt jeder selbst zu besitzen, wenigstens diejenigen, welche nach seiner Lebensweise für ihn wirkliche Tugenden sind, und was die Missetaten betrifft, so hat der Bauer so gut Ursache, wie der Herr, die seiner Väter in Vergessenheit begraben zu wünschen; denn er ist zuweilen trotz seines Hochmutes auch nur ein Mensch.

Ein großes rundes Gebiet von Feld und Wald bildet ein reiches unverwüstliches Vermögen der Bewohner. Dieser Reichtum blieb sich von jeher so ziemlich gleich; wenn auch hie und da eine Braut einen Teil verschleppt, so unternehmen die jungen Burschen dafür häufige Raubzüge bis auf acht Stunden weit und sorgen für hinlänglichen Ersatz sowie dafür, daß die Gemütsanlagen und körperlichen Physiognomien der Gemeinde die gehörige Mannigfaltigkeit bewahren, und sie entwickeln hierin eine tiefere und gelehrtere Einsicht für ein frisches Fortgedeihen, als manche reiche Patrizier- oder Handelsstadt und als die europäischen Fürstengeschlechter.

       Die Einteilung des Besitzes aber verändert sich von Jahr zu Jahr ein wenig und mit jedem halben Jahrhundert fast bis zur Unkenntlichkeit. Die Kinder der gestrigen Bettler sind heute die Reichen im Dorfe, und die Nachkommen dieser treiben sich morgen mühsam in der Mittelklasse umher, um entweder ganz zu verarmen oder sich wieder aufzuschwingen.

Mein Vater starb so früh, daß ich ihn nicht mehr von seinem Vater konnte erzählen hören; ich weiß daher so gut wie nichts von diesem Manne, nur so viel ist gewiß, daß damals die Reihe einer ehrbaren Unvermöglichkeit an seiner engeren Familie war. Da ich nicht annehmen mag, daß der ganz unbekannte Urgroßvater ein liederlicher Kauz gewesen sei, so halte ich es für wahrscheinlich, daß sein Vermögen durch eine zahlreiche Nachkommenschaft zersplittert wurde; wirklich habe ich auch eine Menge entfernter Vettern, welche ich kaum noch zu unterscheiden weiß, die, wie die Ameisen krabbelnd, bereits wieder im Begriff sind, ein gutes Teil der viel zerhackten und durchfurchten Grundstücke an sich zu bringen. Ja, einige Alte unter denselben sind in der Zeit schon wieder reich gewesen und ihre Kinder wieder arm geworden.

                                                                         *

                                             Beispiel 4 - Reiseroman (- novelle)

 

Joseph von Eichendorff  (1788 – 1857)

Aus dem Leben eines Taugenichts (1826)

Erstes Kapitel

Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen; ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen; mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine. Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir: „Du Taugenichts! da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde und läßt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Tür, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot." - „Nun", sagte ich, „wenn ich ein Taugenichts bin, so ist's gut, so will ich in die Welt gehn und mein Glück machen." Und eigentlich war mir das recht lieb, denn es war mir kurz vorher selber eingefallen, auf Reisen zu gehn, da ich die Goldammer, welche im Herbst und Winter immer betrübt an unserm Fenster sang: „Bauer, miet' mich, Bauer, miet' mich!" nun in der schönen Frühlingszeit wieder ganz stolz und lustig vom Baume rufen hörte: „Bauer, behalt deinen Dienst!" - Ich ging also in das Haus hinein und holte meine Geige, die ich recht artig spielte, von der Wand, mein Vater gab mir noch einige Groschen Geld mit auf den Weg, und so schlenderte ich durch das lange Dorf hinaus. Ich hatte recht meine heimliche Freude, als ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts und links, wie gestern und vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinausstrich. Ich rief den armen Leuten nach allen Seiten recht stolz und zufrieden Adjes zu,  aber es kümmerte sich eben keiner sehr darum. Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte. Und als ich endlich ins freie Feld hinauskam, da nahm ich meine liebe Geige vor und spielte und sang, auf der Landstraße fortgehend:

          Wem Gott will rechte Gunst erweisen,

          Den schickt er in die weite Welt,

          Dem will er seine Wunder weisen

          In Berg und Wald und Strom und Feld.

           

          Die Trägen, die zu Hause liegen,

          Erquicket nicht das Morgenrot,

          Sie wissen nur vom Kinderwiegen,

          Von Sorgen, Last und Not um Brot.

           

          Die Bächlein von den Bergen springen,

          Die Lerchen schwirren hoch vor Lust,

          Was sollt' ich nicht mit ihnen singen

          Aus voller Kehl' und frischer Brust?

           

          Den lieben Gott laß ich nur walten;

          Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld

          Und Erd' und Himmel will erhalten,

          Hat auch mein' Sach' aufs best' bestellt!"

           

Indem, wie ich mich so umsehe, kommt ein köstlicher Reisewagen ganz nahe an mich heran, der mochte wohl schon einige Zeit hinter mir drein gefahren sein, ohne dass ich es merkte, weil mein Herz so voller Klang war, denn es ging ganz langsam, und zwei vornehme Damen steckten die Köpfe aus dem Wagen und hörten mir zu. Die eine war besonders schön und jünger als die andere, aber eigentlich gefielen sie mir alle beide. Als ich nun aufhörte zu singen, ließ die ältere still halten und redete mich holdselig an: „Ei, lustiger Gesell, Er weiß ja recht hübsche Lieder zu singen." Ich nicht zu faul dagegen: „Euer Gnaden aufzuwarten, wüßt' ich noch viel schönere." Darauf fragte sie mich wieder: „Wohin wandert Er denn schon so am frühen Morgen?" Da schämte ich mich, daß ich das selber nicht wußte, und sagte dreist: „Nach Wien"; nun sprachen beide miteinander in einer fremden Sprache, die ich nicht verstand. Die jüngere schüttelte einigemal mit dem Kopfe, die andere lachte aber in einem fort und rief mir endlich zu: „Spring Er nur hinten mit auf, wir fahren auch nach Wien." Wer war froher als ich! Ich machte eine Reverenz und war mit einem Sprunge hinter dem Wagen, der Kutscher knallte, und wir flogen über die glänzende Straße fort, daß mir der Wind am Hute pfiff.

Hinter mir gingen nun Dorf, Gärten und Kirchtürme unter, vor mir neue Dörfer, Schlösser und Berge auf; unter mir Saaten, Büsche und Wiesen bunt vorüberfliegend, über mir unzählige Lerchen in der klaren blauen Luft – ich schämte mich, laut zu schreien, aber innerlichst jauchzte ich und strampelte und tanzte auf dem Wagentritt herum, daß ich bald meine Geige verloren hätte, die ich unterm Arme hielt. Wie aber dann die Sonne immer höher stieg, rings am Horizont schwere weiße Mittagswolken aufstiegen, und alles in der Luft und auf der weiten Fläche so leer und schwül und still wurde über den leise wogenden Kornfeldern, da fiel mir erst wieder mein Dorf ein und unsere Mühle, wie es da so heimlich kühl war an dem schattigen Weiher, und daß nun alles so weit, weit hinter mir lag. Mir war dabei so kurios zumute, als müßt' ich wieder umkehren; ich steckte meine Geige zwischen Rock und Weste, setzte mich voller Gedanken auf den Wagentritt hin und schlief ein.                                                                                                                                                                 Als ich die Augen aufschlug, stand der Wagen still unter hohen Lindenbäumen, hinter denen eine breite Treppe zwischen Säulen in ein prächtiges Schloß führte. Seitwärts durch die Bäume sah ich die Türme von Wien. Die Damen waren, wie es schien, längst ausgestiegen, die Pferde abgespannt. Ich erschrak sehr, da ich auf einmal so allein saß, und sprang geschwind in das Schloß hinein, da hörte ich von oben aus dem Fenster lachen. (…)

                *

            Beispiel 5  Gesellschafts-/ Entwicklungs- und Künstlerroman (Satire)

 

E.T.A. Hoffmann  ( 1776 – 1822)

Lebensansichten des Katers Murr. Roman (1820/22)

ERSTER ABSCHNITT   Gefühle des Daseins, die Monate der Jugend

 

Es ist doch etwas Schönes, Herrliches, Erhabenes um das Leben!

- »O du süße Gewohnheit des Daseins!« ruft jener niederländische Held in der Tragödie aus. So auch ich, aber nicht wie der Held in dem schmerzlichen Augenblick, als er sich davon trennen soll - nein! - in dem Moment, da mich eben die volle Lust des Gedankens durchdringt, dass ich in jene süße Gewohnheit nun ganz und gar hineingekommen und durchaus nicht willens bin, jemals wieder hinauszukommen. - Ich meine nämlich, die geistige Kraft, die unbekannte Macht, oder wie man sonst das über uns waltende Prinzip nennen mag, welches mir besagte Gewohnheit ohne meine Zustimmung gewissermaßen aufgedrungen hat, kann unmöglich schlechtere Gesinnungen haben als der freundliche Mann, bei dem ich in Kondition gegangen und der mir das Gericht Fische, das er mir vorgesetzt, niemals vor der Nase wegzieht, wenn es mir eben recht wohlschmeckt.

O Natur, heilige hehre Natur! wie durchströmt all deine Wonne, all dein Entzücken meine bewegte Brust, wie umweht mich dein geheimnisvoll säuselnder Atem! - Die Nacht ist etwas frisch, und ich wollte - doch jeder, der dies lieset oder nicht lieset, begreift nicht meine hohe Begeisterung, denn er kennt nicht den hohen Standpunkt, zu dem ich mich hinaufgeschwungen! - Hinaufgeklettert wäre richtiger, aber kein Dichter spricht von seinen Füßen, hätte er auch deren viere so wie ich, sondern nur von seinen Schwingen, sind sie ihm auch nicht angewachsen, sondern nur Vorrichtung eines geschickten Mechanikers. Über mir wölbt sich der weite Sternenhimmel, der Vollmond wirft seine funkelnden Strahlen herab, und in feurigem Silberglanz stehen Dächer und Türme um mich her! Mehr und mehr verbraust das lärmende Gewühl unter mir in den Straßen, stiller und stiller wird die Nacht - die Wolken ziehen - eine einsame Taube flattert in bangen Liebesklagen girrend um den Kirchturm! - Wie! wenn die liebe Kleine sich mir nähern wollte? - Ich fühle wunderbar es sich in mir regen, ein gewisser schwärmerischer Appetit reißt mich hin mit unwiderstehlicher Gewalt! - O käme sie, die süße Heldin, an mein liebekrankes Herz wollt' ich sie drücken, sie nimmer von mir lassen — ha, dort flattert sie hinein in den Taubenschlag, die Falsche, und lässt mich hoffnungslos sitzen auf dem Dache! - Wie selten ist doch in dieser dürftigen, verstockten, liebeleeren Zeit wahre Sympathie der Seelen.

        Ist denn das auf zwei Füßen aufrecht Einhergehen etwas so Großes, dass das Geschlecht, welches sich Mensch nennt, sich die Herrschaft über uns alle, die wir mit sichererem Gleichgewicht auf vieren daherwandeln, anmaßen darf? Aber ich weiß es, sie bilden sich was Großes ein auf etwas, was in ihrem Kopfe sitzen soll und das sie die Vernunft nennen. Ich weiß mir keine rechte Vorstellung zu machen, was sie darunter verstehen, aber so viel ist gewiss, dass, wenn, wie ich es aus gewissen Reden meines Herrn und Gönners schließen darf, Vernunft nichts anders heißt als die Fähigkeit, mit Bewusstsein zu handeln und keine dumme Streiche zu machen, ich mit keinem Menschen tausche. - Ich glaube überhaupt, dass man sich das Bewusstsein nur angewöhnt; durch das Leben und zum Leben kommt man doch, man weiß selbst nicht, wie. Wenigstens ist es mir so gegangen, und wie ich vernehme, weiß auch kein einziger Mensch auf Erden das Wie und Wo seiner Geburt aus eigner Erfahrung, sondern nur durch Tradition, die noch dazu öfters sehr unsicher ist. Städte streiten sich um die Geburt eines berühmten Mannes, und so wird es, da ich selbst nichts Entscheidendes darüber weiß, immerdar ungewiss bleiben, ob ich in dem Keller, auf dem Boden oder in dem Holzstall das Licht der Welt erblickte, oder vielmehr nicht erblickte, sondern nur in der Welt erblickt wurde von der teuren Mama. Denn wie es unserm Geschlecht eigen, waren meine Augen verschleiert. Ganz dunkel erinnere ich mich gewisser knurrender, prustender Töne, die um mich her erklangen und die ich beinahe wider meinen Willen hervorbringe, wenn mich der Zorn überwältigt. Deutlicher und beinahe mit vollem Bewusstsein finde ich mich in einem sehr engen Behältnis mit weichen Wänden eingeschlossen, kaum fähig, Atem zu schöpfen, und in Not und Angst ein klägliches Jammergeschrei erhebend. Ich fühlte, dass etwas in das Behältnis hinabgriff und mich sehr unsanft beim Leibe packte, und dies gab mir Gelegenheit, die erste wunderbare Kraft, womit mich die Natur begabt, zu fühlen und zu üben. Aus meinen reich überpelzten Vorderpfoten schnellte ich spitze, gelenkige Krallen hervor und grub sie ein in das Ding, das mich gepackt und das, wie ich später gelernt, nichts anders sein konnte als eine menschliche Hand. Diese Hand zog mich aber heraus aus dem Behältnis und warf mich hin, und gleich darauf fühlte ich zwei heftige Schläge auf den beiden Seiten des Gesichts, über die jetzt ein, wie ich wohl sagen mag, stattlicher Bart herüberragt Die Hand teilte mir, wie ich jetzt beurteilen kann, von jenem Muskelspiel der Pfoten verletzt, ein paar Ohrfeigen zu, ich machte du erste Erfahrung von moralischer Ursache und Wirkung, und eben ein moralischer Instinkt trieb mich an, die Krallen ebenso schnell wieder einzuziehen, als ich sie hervorgeschleudert. Später hat mir dieses Einziehen der Krallen mit Recht als einen Akt der höchster Bonhomie und Liebenswürdigkeit anerkannt und mit dem Namen »Samtpfötchen« bezeichnet.                                                                                                                                                   Wie gesagt, die Hand warf mich wieder zur Erde. Bald darauf erfasste sie mich aber aufs neue beim Kopf und drückte ihn nieder so dass ich mit dem Mäulchen in eine Flüssigkeit geriet, die ich selbst weiß ich nicht, wie ich darauf verfiel, es musste daher physischer Instinkt sein, aufzulecken begann, welches mir eine seltsame innere Behaglichkeit erregte. Es war, wie ich jetzt weiß, süße Milch, die ich genoss, mich hatte gehungert, und ich wurde satt, indem ich trank. So trat, nachdem die moralische begonnen, die physische Ausbildung ein.

            Aufs neue, aber sanfter als vorher, fassten mich zwei Hände und legten mich auf ein warmes, weiches Lager. Immer besser und besser wurde mir zumute, und ich begann mein inneres Wohlbehagen zu äußern, indem ich jene seltsame, meinem Geschlecht allein eigene Töne von mir gab, die die Menschen durch den nicht uneben Ausdruck »spinnen« bezeichnen. So ging ich mit Riesenschritten vorwärts in der Bildung für die Welt. Welch ein Vorzug, welch ein köstliches Geschenk des Himmels, inneres physisches Wohlbehagen ausdrücken zu können durch Ton und Gebärde! – Erst knurrte ich, dann kam mir jenes unnachahmliche Talent, den Schweif in den zierlichsten Kreisen zu schlängeln, dann die wunderbare Gabe, durch das einzige Wörtlein »miau« Freude, Schmerz, Wonne und Entzücken, Angst und Verzweiflung, kurz  alle Empfindungen und Leidenschaften in ihren mannigfaltigste! Abstufungen auszudrücken. Was ist die Sprache der Menschen gegen dieses einfachste aller einfachen Mittel, sich verständlich zu machen! - Doch weiter in der denkwürdigen, lehrreichen Geschichte meiner ereignisreichen Jugend!

Ich erwachte aus tiefem Schlaf, ein blendender Glanz umfloss mich, vor dem ich erschrak, fort waren die Schleier von meinen Augen, ich sah!  Ehe ich mich an das Licht, vorzüglich aber an das buntscheckige Allerlei, das sich meinen Augen darbot, gewöhnen konnte, musste ich mehrmals hintereinander entsetzlich niesen, bald ging es indessen mit dem Sehen ganz vortrefflich, als habe ich es schon mehrer Zeit hintereinander getrieben.

           O das Sehen! Es ist eine wunderbare herrliche Gewohnheit, eine Gewohnheit, ohne die es sehr schwer würde, überhaupt in der Welt zu bestehen! – Glücklich diejenigen Hochbegabten, denen es so leicht wird als mir, sich das Sehen anzueignen. (…)

              *

                       Beispiel 6 - Schauerroman

a)

Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776 – 1822)

Die Elixiere des Teufels

Nachgelassene Papiere des Bruders Medardus, eines Kapuziners  (1815/16)

 VORWORT

Gern möchte ich dich, günstiger Leser, unter jene dunklen Platanen führen, wo ich die seltsame Geschichte des Bruders Medardus zum ersten Male las. Du würdest dich mit mir auf dieselbe, in duftige Stauden und bunt glühende Blumen halbversteckte, steinerne Bank setzen; du würdest so wie ich recht sehnsüchtig nach den blauen Bergen schauen, die sich in wunderlichen Gebilden hinter dem sonnichten Tal auftürmen, das am Ende des Laubganges sich vor uns ausbreitet. Aber nun wendest du dich um und erblickest kaum zwanzig Schritte hinter uns ein gotisches Gebäude, dessen Portal reich mit Statuen verziert ist. - Durch die dunklen Zweige der Platanen schauen dich Heiligenbilder recht mit klaren lebendigen Augen an; es sind die frischen Freskogemälde, die auf der breiten Mauer prangen. Die Sonne steht glutrot auf dem Gebirge, der Abendwind erhebt sich, überall Leben und Bewegung. Flüsternd und rauschend gehen wunderbare Stimmen durch Baum und Gebüsch: als würden sie steigend und steigend zu Gesang und Orgelklang, so tönt es von ferne herüber. Ernste Männer in weit gefalteten Gewändern wandeln, den frommen Blick emporgerichtet, schweigend durch die Laubgänge des Gartens. Sind denn die Heiligenbilder lebendig geworden und herabgestiegen von den hohen Simsen -? Dich umwehen die geheimnisvollen Schauer der wunderbaren Sagen und Legenden, die dort abgebildet, dir ist, als geschähe alles vor deinen Augen, und willig magst du daran glauben. In dieser Stimmung liesest du die Geschichte des Medardus, und wohl magst du auch dann die sonderbaren Visionen des Mönchs für mehr halten als für das regellose Spiel der erhitzten Einbildungskraft.-           Da du, günstiger Leser, soeben Heiligenbilder, ein Kloster und Mönche geschaut hast, so darf ich kaum hinzufügen, dass es der herrliche Garten des Kapuzinerklosters in B. war, in den ich dich geführt hatte.

           Als ich mich einst in diesem Kloster einige Tage aufhielt, zeigte mir der ehr- würdige Prior die von dem Bruder Medardus nachgelassenen, im Archiv aufbewahrten Papiere als eine Merkwürdigkeit, und nur mit Mühe überwand ich des Priors Bedenken, sie mir mitzuteilen. Eigentlich, meinte der Alte, hätten diese Papiere verbrannt werden sollen. - Nicht ohne Furcht, du werdest des Priors Meinung sein, gebe ich dir, günstiger Leser, nun das aus jenen Papieren geformte Buch in die Hände. Entschließest du dich aber, mit dem Medardus, als seist du sein treuer Gefährte, durch finstre Kreuzgänge und Zellen - durch die bunte,, bunteste Welt zu ziehen und mit ihm das Schauerliche, Entsetzliche, Tolle, Possenhafte seines Lebens zu ertragen, so wirst du dich vielleicht an den mannigfachen Bildern der Camera obscura, die sich dir aufgetan, ergötzen. - Es kann auch kommen, dass das gestaltlos Scheinende, sowie du schärfer es ins Auge fassest, sich dir bald deutlich und rund darstellt: Du erkennst den verborgenen Keim, den ein dunkles Verhängnis gebar und der, zur üppigen Pflanze emporgeschossen, fort und fort wuchert, in tausend Ranken, bis eine Blüte, zur Frucht reifend, allen Lebenssaft an sich zieht und den Keim selbst tötet.

Nachdem ich die Papiere des Kapuziners Medardus recht emsig durchgelesen, welches mir schwer genug wurde, da der Selige eine sehr kleine, unleserliche mönchische Handschrift geschrieben, war es mir auch, als könne das, was wir insgemein Traum und Einbildung nennen, wohl die symbolische Erkenntnis des geheimen Fadens sein, der sich durch unser Leben zieht, es festknüpfend in allen seinen Bedingungen, als sei der aber für verloren zu achten, der mit jener Erkenntnis die Kraft gewonnen glaubt, jenen Faden gewaltsam zu zerreißen und es aufzunehmen mit der dunklen Macht, die über uns gebietet. 

Vielleicht geht es dir, günstiger Leser, wie mir, und das wünschte ich denn aus erheblichen Gründen recht herzlich.

                                             ERSTER TEIL  Erster Abschnitt

Die Jahre der Kindheit und das Klosterleben

Nie hat mir meine Mutter gesagt, in welchen Verhältnissen mein Vater in der Welt lebte; rufe ich mir aber alles das ins Gedächtnis zurück, was sie mir schon in meiner frühesten Jugend von ihm erzählte, so muss ich wohl glauben, dass es ein mit tiefen Kenntnissen begabter lebenskluger Mann war. Eben aus diesen Erzählungen und einzelnen Äußerungen meiner Mutter über ihr früheres Leben, die mir erst später verständlich wurden, weiß ich, dass meine Eltern von einem bequemen Leben, welches sie im Besitz vieles Reichtums führten, herabsanken in die drückendste bittere Armut und dass mein Vater, einst durch den Satan verlockt zum verruchten Frevel, eine Todsünde beging, die er, als ihn in späten Jahren die Gnade Gottes erleuchtete, abbüßen wollte auf einer Pilgerreise nach der heiligen Linde im weit entfernten kalten Preußen. Auf der beschwerlichen Wanderung dahin fühlte meine Mutter nach mehreren Jahren der Ehe zum erstenmal, dass diese nicht unfruchtbar bleiben würde, wie mein Vater befürchtet, und seiner Dürftigkeit unerachtet war er hoch erfreut, weil nun eine Vision in Erfüllung gehen sollte, in welcher ihm der heilige Bernardus Trost und Vergebung der Sünde durch die Geburt eines Sohnes zugesichert hatte. In der heiligen Linde erkrankte mein Vater, und je weniger er die vorgeschriebenen beschwerlichen Andachtsübungen seiner Schwäche unerachtet aussetzen wollte, desto mehr nahm das Übel überhand; er starb entsündigt und getröstet in demselben Augenblick, als ich geboren wurde. – Mit dem ersten Bewusstsein dämmern in mir die lieblichen Bilder von dem Kloster und von der herrlichen Kirche in der heiligen Linde auf. Mich umrauscht noch der dunkle Wald - mich umduften noch die üppig aufgekeimten Gräser, die bunten Blumen, die meine Wiege waren. Kein giftiges Tier, kein schädliches Insekt nistet in dem Heiligtum der Gebenedeiten; nicht das Sumsen einer Fliege, nicht das Zirpen des Heimchens unterbricht die heilige Stille, in der nur die frommen Gesänge der Priester erhallen, die mit den Pilgern, goldne Rauchfässer schwingend, aus denen der Duft des Weihrauchopfers emporsteigt, in langen Zügen daherziehen. Noch sehe ich mitten in der Kirche den mit Silber überzogenen Stamm der Linde, auf welche die Engel das wundertätige Bild der Heiligen Jungfrau niedersetzten. Noch lächeln mich die bunten Gestalten der Engel, der Heiligen von den Wänden, von der Decke der Kirche an! - Die Erzählungen meiner Mutter von dem wundervollen Kloster, wo ihrem tiefsten Schmerz gnadenreicher Trost zuteil wurde, sind so in mein Inneres gedrungen, dass ich alles selbst gesehen, selbst erfahren zu haben glaube, unerachtet es unmöglich ist, dass meine Erinnerung so weit hinausreicht, da meine Mutter nach anderthalb Jahren die heilige Stätte verließ. So ist es mir, als hätte ich selbst einmal in der öden Kirche die wunderbare Gestalt eines ernsten Mannes gesehen, und es sei ebender fremde Maler gewesen, der in uralter Zeit, als ebendie Kirche gebaut, erschien, dessen Sprache niemand verstehen konnte und der mit kunstgeübter Hand in gar kurzer Zeit die Kirche auf das herrlichste ausmalte, dann aber, als er fertig geworden, wieder verschwand -. So gedenke ich ferner noch eines alten fremdartig gekleideten Pilgers mit langem, grauem Barte, der mich oft auf den Armen umhertrug, im Walde allerlei bunte Moose und Steine suchte und mit mir spielte; unerachtet ich gewiss glaube, dass nur aus der Beschreibung meiner Mutter sich im Innern sein lebhaftes Bild erzeugt hat. Er brachte einmal einen fremden wunderschönen Knaben mit, der mit mir von gleichem Alter war. Uns herzend und küssend, saßen wir im Grase, ich schenkte ihm alle meine bunten Steine, und er wusste damit allerlei Figuren auf dem Erdboden zu ordnen, aber immer bildete sich daraus zuletzt die Gestalt des Kreuzes. Meine Mutter saß neben uns auf einer steinernen Bank, und der Alte schaute, hinter ihr stehend, mit mildem Ernst unsern kindischen Spielen zu. Da traten einige Jünglinge aus dem Gebüsch, die, nach ihrer Kleidung und nach ihrem ganzen Wesen zu urteilen, wohl nur aus Neugierde und Schaulust nach der heiligen Linde gekommen waren. Einer von ihnen rief, indem er uns gewahr wurde, lachend: »Sieh da! Eine heilige Familie, das ist etwas für meine Mappe! « Er zog wirklich Papier und Krayon hervor und schickte sich an, uns zu zeichnen. Da erhob der alte Pilger sein Haupt und rief zornig: »Elender Spötter, du willst ein Künstler sein, und in deinem Innern brannte nie die Flamme des Glaubens und der Liebe; aber deine Werke werden tot und starr bleiben wie du selbst, und du wirst wie ein Verstoßener in einsamer Leere verzweifeln und untergehen in deiner eigenen Armseligkeit.« — Die Jünglinge eilten bestürzt von dannen. Der alte Pilger sagte zu meiner Mutter: »Ich habe Euch heute ein wunderbares Kind gebracht, damit es in Euerm Sohn den Funken der Liebe entzünde, aber ich muss es wieder von Euch nehmen, und Ihr werdet es wohl sowie mich selbst nicht mehr schauen. Euer Sohn ist mit vielen Gaben herrlich ausgestattet, aber die Sünde des Vaters kocht und gärt in seinem Blute, er kann jedoch sich zum wackern Kämpen für den Glauben aufschwingen, lasset ihn geistlich werden! « Meine Mutter konnte nicht genug sagen, welchen tiefen unauslöschlichen Eindruck die Worte des Pilgers auf sie gemacht hatten; sie beschloss aber demunerachtet, meiner Neigung durchaus keinen Zwang anzutun, sondern ruhig abzuwarten, was das Geschick über mich verhängen und wozu es mich leiten würde, da sie an irgendeine andere höhere Erziehung, als die sie selbst mir zu geben imstande war, nicht denken konnte.

                *

                                            Beispiel 6 Schauerroman

b)

Ernst August Klingemann (1777 – 1831)

Nachtwachen von Bonaventura    (1804)

Erste Nachtwache.

 Die Nachtstunde schlug; ich hüllte mich in meine abenteuerliche Vermummung, nahm die Pike und das Horn zur Hand, ging in die Finsterniß hinaus und rief die Stunde ab, nachdem ich mich durch ein Kreuz gegen die bösen Geister geschützt hatte.

         Es war eine von jenen unheimlichen Nächten, wo Licht und Finsterniß schnell und seltsam mit einander abwechselten. Am Himmel flogen die Wolken, vom Winde getrieben, wie wunderliche Riesenbilder vorüber, und der Mond erschien und verschwand im raschen Wechsel. Unten in den Straßen herrschte Todtenstille, nur hoch oben in der Luft hauste der Sturm, wie ein unsichtbarer Geist.

Es war mir schon recht, und ich freute mich über meinen einsam wiederhallenden Fußtritt, denn ich kam mir unter den vielen Schläfern vor wie der Prinz im Mährchen in der bezauberten Stadt, wo eine böse Macht jedes lebende Wesen in Stein verwandelt hatte; oder wie ein einzig Übriggebliebener nach einer allgemeinen Pest oder Sündfluth.

           Der letzte Vergleich machte mich schaudern, und ich war froh ein einzelnes mattes Lämpchen noch hoch oben über der Stadt auf einem freien Dachkämmerchen brennen zu sehen. Ich wußte wohl, wer da so hoch in den Lüften regierte; es war ein verunglückter Poet, der nur in der Nacht wachte, weil dann seine Gläubiger schliefen, und die Musen allein nicht zu den letzten gehörten. Ich konnte mich nicht entbrechen folgende Standrede an ihn zu halten:

     »O du, der du da oben dich herumtreibst, ich verstehe dich wohl, denn ich war einst deinesgleichen! Aber ich habe diese Beschäftigung aufgegeben gegen ein ehrliches Handwerk, das seinen Mann ernährt, und das für denjenigen, der sie darin aufzufinden weiß, doch keinesweges ganz ohne Poesie ist. Ich bin dir gleichsam wie ein satirischer Stentor (= Held der griech. Sage; Ad)  in den Weg gestellt und unterbreche deine Träume von Unsterblichkeit, die du da oben in der Luft träumst, hier unten auf der Erde regelmäßig durch die Erinnerung an die Zeit und Vergänglichkeit. Nachtwächter sind wir zwar beide; schade nur daß dir deine Nachtwachen in dieser kalt prosaischen Zeit nichts einbringen, indeß die meinigen doch immer ein Übriges abwerfen. Als ich noch in der Nacht poesirte, wie du, mußte ich hungern, wie du, und sang tauben Ohren; das letzte thue ich zwar noch jetzt, aber man bezahlt mich dafür. O Freund Poet, wer jezt leben will, der darf nicht dichten! Ist dir aber das Singen angebohren, und kannst du es durchaus nicht unterlassen, nun so werde Nachtwächter, wie ich, das ist noch der einzige solide Posten wo es bezahlt wird, und man dich nicht dabei verhungern läßt. - Gute Nacht, Bruder Poet.«

Ich blickte noch einmal hinauf, und gewahrte seinen Schatten an der Wand, er war in einer tragischen Stellung begriffen, die eine Hand in den Haaren, die andre hielt das Blatt, von dem er wahrscheinlich seine Unsterblichkeit sich vorrezitirte.   Ich stieß ins Horn, rief ihm laut die Zeit zu, und ging meiner Wege. –

Halt! dort wacht ein Kranker - auch in Träumen, wie der Poet, in wahren Fieberträumen!

 Der Mann war ein Freigeist von jeher, und er hält sich stark in seiner letzten Stunde, wie Voltaire. Da sehe ich ihn durch den Einschnitt im Fensterladen; er schaut blaß und ruhig in das leere Nichts, wohin er nach einer Stunde einzugehen gedenkt, um den traumlosen Schlaf auf immer zu schlafen. Die Rosen des Lebens sind von seinen Wangen abgefallen, aber sie blühen rund um ihn auf den Gesichtern dreier holder Knaben. Der jüngste droht ihm kindlich unwissend in das blasse starre Antlitz, weil es nicht mehr lächeln will, wie sonst. Die andern beiden stehen ernst betrachtend, sie können sich den Tod noch nicht denken in ihrem frischen Leben. Das junge Weib dagegen mit aufgelößtem Haar und offner schöner Brust, blickt verzweifelnd in die schwarze Gruft, und wischt nur dann und wann den Schweiß, wie mechanisch von der kalten Stirn des Sterbenden.  Neben ihm steht, glühend vor Zorn, der Pfaff mit aufgehobenem Kruzifixe, den Freigeist zu bekehren. Seine Rede schwillt mächtig an wie ein Strom, und er mahlt das Jenseits in kühnen Bildern; aber nicht das schöne Morgenroth des neuen Tages und die aufblühenden Lauben und Engel, sondern, wie ein wilder Höllenbreugel, die Flammen und Abgründe und die ganze schaudervolle Unterwelt des Dante. Vergebens! der Kranke bleibt stumm und starr, er sieht mit einer fürchterlichen Ruhe ein Blatt nach dem andern abfallen, und fühlt wie sich die kalte Eisrinde des Todes höher und höher zum Herzen hinaufzieht.  Der Nachtwind pfiff mir durch die Haare und schüttelte die morschen Fensterladen, wie ein unsichtbarer herannahender Todesgeist. Ich schauderte, der Kranke blickte plötzlich kräftig um sich, als gesundete er rasch durch ein Wunder und fühlte neues höheres Leben. Dieses schnelle leuchtende Auflodern der schon verlöschenden Flamme, der sichere Vorbote des nahen Todes, wirft zugleich ein glänzendes Licht in das vor dem Sterbenden aufgestellte Nachtstück, und leuchtet rasch und auf einen Augenblick in die dichterische Frühlingswelt des Glaubens und der Poesie. Sie ist die doppelte Beleuchtung in der Corregios Nacht, und verschmilzt den irdischen und himmlischen Strahl zu Einem wunderbaren Glanze.

Der Kranke wieß die höhere Hoffnung fest und entschieden zurück, und führte dadurch einen großen Moment herbei. Der Pfaff donnerte ihm zornig in die Seele und mahlte jezt mit Flammenzügen wie ein Verzweifelnder, und bannte den ganzen Tartarus herauf in die letzte Stunde des Sterbenden. Dieser lächelte nur und schüttelte den Kopf. Ich war in diesem Augenblicke seiner Fortdauer gewiß; denn nur das endliche Wesen kann den Gedanken der Vernichtung nicht denken, während der unsterbliche Geist nicht vor ihr zittert, der sich, ein freies Wesen, ihr frei opfern kann, wie sich die Indischen Weiber kühn in die Flammen stürzen, und der Vernichtung weihen. Ein wilder Wahnsinn schien bei diesem Anblicke den Pfaffen zu ergreifen, und getreu seinem Karakter redete er jezt, indem ihm das Beschreiben zu ohnmächtig erschien, in der Person des Teufels selbst, der ihm am nächsten lag. Er drückte sich wie ein Meister darin aus, ächt teufelisch im kühnsten Style, und fern von der schwachen Manier des modernen Teufels.  Dem Kranken wurde es zu arg. Er wendete sich finster weg, und blickte die drei Frühlingsrosen an, die um sein Bette blüheten. Da loderte die ganze heiße Liebe zum letztenmale in seinem Herzen auf, und über das blasse Antlitz flog ein leichtes Roth, wie eine Erinnerung. Er ließ sich die Knaben reichen, und küßte sie mit Anstrengung, dann legte er das schwere Haupt an die hochwallende Brust des Weibes, stieß ein leises, Ach! aus, das mehr Wollust als Schmerz schien, und entschlief liebend im Arm der Liebe. (…)

                *

          Beispiel 7  Erziehungsroman  (Briefroman)

 

Friedrich Schlegel (1772 – 1829)     Lucinde.  Roman (Fragment) 1799

 

PROLOG

Mit lächelnder Rührung überschaut und eröffnet Petrarca die Sammlung seiner ewigen Romanzen. Höflich und schmeichelnd redet der kluge Boccaz am Eingang und am Schluss seines reichen Buchs zu allen Damen. Und selbst der hohe Cervantes, auch als Greis und in der Agonie noch freundlich und voll von zartem Witz, bekleidet das bunte Schauspiel der lebensvollen Werke mit dem kostbaren Teppich einer Vorrede, die selbst schon ein schönes romantisches Gemälde ist.

Hebt eine herrliche Pflanze aus dem fruchtbaren mütterlichen Boden, und es wird sich manches liebevoll daranhängen, was nur einem Kargen überflüssig scheinen kann.

Aber was soll mein Geist seinem Sohne geben, der gleich ihm so arm an Poesie ist als reich an Liebe?

Nur ein Wort, ein Bild zum Abschiede: Nicht der königliche Adler allein darf das Gekrächz der Raben verachten; auch der Schwan ist stolz, und nimmt es nicht wahr. Ihn kümmert nichts, als dass der Glanz seiner weißen Fittiche rein bleibe. Er sinnt nur darauf, sich an den Schoß der Leda zu schmiegen, ohne ihn zu verletzen, und alles was sterblich ist an ihm, in Gesänge auszuhauchen.

             Bekenntnisse eines Ungeschickten

Julius an Lucinde

Die Menschen und was sie wollen und tun, erschienen mir, wenn ich mich daran erinnerte, wie aschgraue Figuren ohne Bewegung: aber in der heiligen Einsamkeit um mich her war alles Licht und Farbe und ein frischer warmer Hauch von Leben und Liebe wehte mich an und rauschte und regte sich in allen Zweigen des üppigen Hains. Ich schaute und genoss alles zugleich, das kräftige Grün, die weiße Blüte und die goldne Frucht. Und so sah ich auch mit dem Auge meines Geistes die eine ewig und einzig Geliebte in vielen Gestalten, bald als kindliches Mädchen, bald als Frau in der vollen Blüte und Energie der Liebe und der Weiblichkeit, und dann als würdige Mutter mit dem ernsten Knaben im Arm. Ich atmete Frühling, klar sah ich die ewige Jugend um mich und lächelnd sagte ich: Wenn die Welt auch eben nicht die beste oder die nützlichste sein mag, so weiß ich doch, sie ist die schönste. In diesem Gefühle oder Gedanken hätte mich auch nichts stören können, weder allgemeine Zweifel noch eigene Furcht. Denn ich glaubte einen tiefen Blick in das Verborgne der Natur zu tun; ich fühlte, dass alles ewig lebe und dass der Tod auch freundlich sei und nur eine Täuschung. Doch dachte ich daran eigentlich nicht sehr, wenigstens zum Gliedern und Zergliedern der Begriffe war ich nicht sonderlich gestimmt. Aber gern und tief verlor ich mich in alle die Vermischungen und Verschlingungen von Freude und Schmerz, aus denen die Würze des Lebens und die Blüte der Empfindung hervorgeht, die geistige Wollust wie die sinnliche Seligkeit. Ein feines Feuer strömte durch meine Adern; was ich träumte, war nicht etwa bloß ein Kuss, die Umschließung Deiner Arme, es war nicht bloß der Wunsch, den quälenden Stachel der Sehnsucht zu brechen und die süße Glut in Hingebung zu kühlen; nicht nach Deinen Lippen allein sehnte ich mich, oder nach Deinen Augen, oder nach Deinem Leibe: sondern es war eine romantische Verwirrung von allen diesen Dingen, ein wundersames Gemisch von den verschiedensten Erinnerungen und Sehnsuchten. Alle Mysterien des weiblichen und des männlichen Mutwillens schienen mich zu umschweben, als mich Einsamen plötzlich Deine wahre Gegenwart und der Schimmer der blühenden Freude auf Deinem Gesichte vollends entzündete. Witz und Entzücken begonnen nun ihren Wechsel und waren der gemeinsame Puls unsers vereinten Lebens; wir umarmten uns mit ebensoviel Ausgelassenheit als Religion. Ich bat sehr, Du möchtest Dich doch einmal der Wut ganz hingeben, und ich flehte Dich an. Du möchtest unersättlich sein. Dennoch lauschte ich mit kühler Besonnenheit auf jeden leisen Zug der Freude, damit mir auch nicht einer entschlüpfe und eine Lücke in der Harmonie bleibe. Ich genoss nicht bloß, sondern ich fühlte und genoss auch den Genuss.

Du bist so außerordentlich klug, liebste Lucinde, dass Du wahrscheinlich schon längst auf die Vermutung geraten bist, dies alles sei nur ein schöner Traum. So ist es leider auch, und ich würde untröstlich darüber sein, wenn ich nicht hoffen dürfte, dass wir wenigstens einen Teil davon nächstens realisieren könnten. Das Wahre an der Sache ist, dass ich vorhin am Fenster stand; wie lange, das weiß ich nicht recht: denn mit den ändern Regeln der Vernunft und der Sittlichkeit ist auch die Zeitrechnung dabei ganz von mir vergessen worden. Also ich stand am Fenster und sah ins Freie; der Morgen verdient allerdings schön genannt zu werden, die Luft ist still und warm genug, auch ist das Grün hier vor mir ganz frisch, und wie sich die weite Ebene bald hebt bald senket, so windet sich der ruhige, breite silberhelle Strom in großen Schwüngen und Bogen, bis er und die Phantasie des Liebenden, die sich gleich dem Schwane auf ihm wiegte, in die Ferne hinziehen und sich in das Unermessliche langsam verlieren. Den Hain und sein südliches Kolorit verdankt meine Vision wahrscheinlich dem großen Blumenhaufen hier neben mir, unter denen sich eine beträchtliche Anzahl von Orangen befindet. Alles Übrige lässt sich leicht aus der Psychologie erklären. Es war Illusion, liebe Freundin, alles Illusion, außer dass ich vorhin am Fenster stand und nichts tat, und dass ich jetzt hier sitze und etwas tue, was auch nur wenig mehr oder wohl gar noch etwas weniger als nichts tun ist.

So weit war an Dich geschrieben, was ich mit mir gesprochen hatte, als mich mitten in meinen zarten Gedanken und sinnreichen Gefühlen über den ebenso wunderbaren als verwickelten dramatischen Zusammenhang unsrer Umarmungen ein ungebildeter und ungefälliger Zufall unterbrach, da ich eben im Begriff war, die genaue und gediegne Historie unsers Leichtsinns und meiner Schwerfälligkeit in klaren und wahren Perioden vor dir aufzurollen, die von Stufe zu Stufe allmählich nach natürlichen Gesetzen fortschreitende Aufklärung unsrer den verborgenen Mittelpunkt des feinsten Daseins angreifenden Missverständnisse zu entwickeln, und die mannigfachen Produkte meiner Ungeschicklichkeit darzustellen, nebst den Lehrjahren meiner Männlichkeit; welche ich im Ganzen und in ihren Teilen nie überschauen kann, ohne vieles Lächeln, einige Wehmut und hinlängliche Selbstzufriedenheit. Doch will ich als ein gebildeter Liebhaber und Schriftsteller versuchen, den rohen Zufall zu bilden und ihn zum Zwecke gestalten. Für mich und für diese Schrift, für meine Liebe zu ihr und für ihre Bildung in sich, ist aber kein Zweck zweckmäßiger als der, dass ich gleich anfangs das was wir Ordnung nennen vernichte, weit von ihr entferne und mir das Recht einer reizenden Verwirrung deutlich zueigne und durch die Tat behaupte. Dies ist umso nötiger, da der Stoff, den unser Leben und Lieben meinem Geiste und meiner Feder gibt, so unaufhaltsam progressiv und so unbiegsam systematisch ist. Wäre es nun auch die Form, so würde dieser in seiner Art einzige Brief dadurch eine unerträgliche Einheit und Einerleiheit erhalten und nicht mehr können, was er doch will und soll: das schönste Chaos von erhabnen Harmonien und interessanten Genüssen nachbilden und ergänzen. Ich gebrauche also mein unbezweifeltes Verwirrungsrecht und setze oder stelle hier ganz an die unrechte Stelle eines von den vielen zerstreuten Blättern die ich aus Sehnsucht und Ungeduld, wenn ich Dich nicht fand wo ich Dich am gewissesten zu finden hoffte, in Deinem Zimmer, auf unserm Sofa, mit der zuletzt von Dir gebrauchten Feder, mit den ersten den besten Worten, so jene mir eingegeben, anfüllte oder verdarb, und die Du, Gute, ohne dass ich es wusste, sorgsam bewahrtest.

Die Auswahl wird mir nicht schwer. Denn da unter den Träumereien, die hier schon den ewigen Lettern und Dir anvertrauet sind, die Erinnerung an die schönste Welt noch das gehaltvollste ist, und noch am ersten eine gewisse Art von Ähnlichkeit mit den so genannten Gedanken hat: so nehme ich vor allen ändern die dithyrambische Phantasie über die schönste Situation. Denn wissen wir erst sicher, dass wir in der schönsten Welt leben: so ist es unstreitig das nächste Bedürfnis uns über die schönste Situation in dieser schönsten Welt durch andre oder durch uns selbst gründlich zu belehren.  ( . . . )

              *

          Beispiel 8  Künstlerroman

a)

Wilhelm Heinrich Wackenroder  (1773 – 1798)

Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders  Berlin 1797

 

An den Leser dieser Blätter

In der Einsamkeit eines klösterlichen Lebens, in der ich nur noch zuweilen dunkel an die entfernte Welt zurückdenke, sind nach und nach folgende Aufsätze entstanden. Ich liebte in meiner Jugend die Kunst ungemein, und diese Liebe hat mich wie ein treuer Freund, bis in mein jetziges Alter begleitet: ohne daß ich es bemerkte, schrieb ich aus einem innern Drange meine Erinnerungen nieder, die du, geliebter Leser, mit einem nachsichtsvollen Auge betrachten mußt. Sie sind nicht im Ton der heutigen Welt abgefaßt, weil dieser Ton nicht in meiner Gewalt steht, und weil ich ihn auch, wenn ich ganz aufrichtig sprechen soll, nicht lieben kann.

     In meiner Jugend war ich in der Welt und in vielen weltlichen Geschäften verwickelt. Mein größter Drang war zur Kunst, und ich wünschte ihr mein Leben und alle meine wenigen Talente zu widmen. Nach dem Urteile einiger Freunde war ich im Zeichnen nicht ungeschickt, und meine Kopien sowohl, als meine eigenen Erfindungen mißfielen nicht ganz. Aber immer dachte ich mit einem stillen, heiligen Schauer an die großen gebenedeiten Kunstheiligen; es kam mir seltsam, ja fast albern vor, daß ich die Kohle oder den Pinsel in meiner Hand führte, wenn mir der Name Raffaels oder Michelangelos in das Gedächtnis fiel. Ich darf es wohl gestehen, daß ich zuweilen aus einer unbeschreiblichen wehmütigen Inbrunst weinen mußte, wenn ich mir ihre Werke und ihr Leben recht deutlich vorstellte: ich konnte es nie dahin bringen, - ja ein solcher Gedanke würde mir gottlos vorgekommen sein, - an meinen auserwählten Lieblingen das Gute von dem sogenannten Schlechten zu sondern und sie am Ende alle in eine Reihe zu stellen, um sie mit einem kalten, kritisierenden Blicke zu betrachten, wie es junge Künstler und sogenannte Kunstfreunde wohl jetzt zu machen pflegen. So habe ich, ich will es frei gestehn, in den Schriften des H. von Ramdohr nur weniges mit Wohlgefallen gelesen; und wer diese liebt, mag das, was ich geschrieben habe, nur sogleich aus der Hand legen, denn es wird ihm nicht gefallen. Diese Blätter, die ich anfangs gar nicht für den Druck bestimmt, widme ich überhaupt nur jungen angehenden Künstlern, oder Knaben, die sich der Kunst zu widmen gedenken, und noch die heilige Ehrfurcht vor der verflossenen Zeit in einem stillen, unaufgeblähten Herzen tragen. Sie werden vielleicht durch meine sonst unbedeutende Worte noch mehr gerührt, zu einer noch tiefern Ehrfurcht bewegt; denn sie lesen mit derselben Liebe, mit der ich geschrieben habe.

 Der Himmel hat es so gefügt, daß ich mein Leben in einem Kloster beschließe: diese Versuche sind daher das einzige, was ich jetzt für die Kunst zu tun imstande bin. Wenn sie nicht ganz mißfallen, so folgt vielleicht ein zweiter Teil, in welchem ich die Beurteilungen einiger einzelnen Kunstwerke widerlegen möchte, wenn mir der Himmel Gesundheit und Muße verleiht, meine niedergeschriebenen Gedanken hierüber zu ordnen und in einen deutlichen Vortrag zu bringen. –

                 *

b)

Ludwig Tieck ( 1773 – 1853)

Peter Lebrecht. Eine Geschichte ohne Abenteuerlichkeiten

Erster Teil (1795)  ERSTES KAPITEL  Vorrede

Lieber Leser, du glaubst nicht, mit welcher innigen Wehmut ich dich diese Blätter in die Hand nehmen sehe, denn ich weiß es voraus, daß du sie wieder wegwerfen wirst, sobald du nur einige flüchtige Blicke hineingetan hast. Da mir aber deine Bekanntschaft gar zu teuer ist, so will ich wenigstens vorher alles mögliche versuchen um dich festzuhalten; lies daher wenigstens das erste Kapitel, und wenn wir uns nachher nicht wiedersehen sollten, so lebe tausendmal wohl. -

Um deine Gunst zu gewinnen, müßte ich meine Erzählung ungefähr folgendermaßen anfangen:

 „Der Sturmwind rasselte in den Fenstern der alten Burg Wallenstein. - Die Mitternacht lag schwarz über dem Gefilde ausgestreckt, und Wolken jagten sich durch den Himmel, als Ritter Karl von Wallenstein auf seinem schwarzen Rosse die Burg verließ, und unverdrossen dem pfeifenden Winde entgegentrabte. - Als er um die Ecke des Waldes bog, hört er neben sich ein Geräusch, sein Roß bäumte, und eine weißliche Schattengestalt drängte sich aus den Gebüschen hervor." - - -

Ich wette, du wirst es mir nicht vergeben können, daß ich diese interessante abenteuerliche und ungeheuerliche Geschichte nicht fortsetze, ob ich gleich, wie das der Fall bei den neueren Romanschreibern ist, selbst nicht weiß, wie sie fortfahren, oder gar endigen sollte.

In medias res will ich gerissen sein! rufen die Leser, und die Dichter tun ihnen hierin auch so sehr den Willen, daß ihre Erfindungen weder Anfang noch Ende haben. Der Leser aber ist zufrieden, wenn es ihm nur recht schauerlich und grauerlich zumute wird. Riesen, Zwerge, Gespenster, Hexen, etwas Mord und Totschlag, Mondschein und Sonnenuntergang, dies mit Liebe und Empfindsamkeit versüßlicht, um es glatter hinterzubringen, sind ungefähr die Ingredienzien, aus denen das ganze Heer der neusten Erzählungen, vom Petermännchen bis zur Burg Otranio, vom Genius bis zum Hechelkrämer, besteht. Der Marquis von Grosse hat dem Geschmack aller Lesegesellschaften eine andere Richtung gegeben, aber sie haben sich zugleich an seinem spanischen Winde den Magen verdorben; mit Herrn Spieß hat man sich gewöhnt, überall und nirgends zu sein; und keine Erzählung darf jetzt mehr Anspruch machen, gelesen zu werden, wenn der Leser nicht vorhersieht, daß ihm wenigstens die Haare dabei fairgan stehen werden.

Um kurz zu sein, lieber Leser, will ich dir nur mit dürren Worten sagen: daß in der unbedeutenden Geschichte meines bisherigen Lebens, die ich dir jetzt erzählen will, kein Geist oder Unhold auftritt; ich habe auch keine Burg zerstört, und keinen Riesen erlegt; sei versichert, ich sage dies nicht aus Zurückhaltung, denn wäre es der Fall gewesen, ich würde dir alles, der Wahrheit nach, erzählen.  Auch muß ich dir leider noch bekennen, daß ich mich in keine geheime Gesellschaft habe einweihen lassen; ich kann dir also keine mystischen und hieroglyphischen Zeremonien beschreiben, ich kann dir nicht das Vergnügen machen, Sachen zu erzählen, von denen du nicht eine Silbe verstehst. -

                *

                   

      Beispiel 9  Kriminalnovelle (-roman/ Fallbericht)

 

Friedrich Schiller  (1759 – 1805) 

Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1785)

Eine wahre Geschichte

In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen (= Jahrbücher, Ad)  seiner Verirrungen. Bei jedem großen Verbrechen war eine verhältnismäßig große Kraft in Bewegung. Wenn sich das geheime Spiel der Begehrungskraft bei dem matteren Licht gewöhnlicher Affekte versteckt, so wird es im Zustand gewaltsamer Leidenschaft desto hervorspringender, kolossalischer, lauter; der feinere Menschenforscher, welcher weiß, wie viel man auf die Mechanik der gewöhnlichen Willensfreiheit eigentlich rechnen darf und wie weit es erlaubt ist, analogisch (= entsprechend) zu schließen, wird manche Erfahrung aus diesem Gebiete in seine Seelenlehre herübertragen und für das sittliche Leben verarbeiten.

        Es ist etwas so Einförmiges und doch wieder so Zusammengesetztes, das menschliche Herz. Eine und eben dieselbe Fertigkeit oder Begierde kann in tausenderlei Formen und Richtungen spielen, kann tausend widersprechende Phänomene bewirken, kann in tausend Charakteren anders gemischt erscheinen, und tausend ungleiche Charaktere und Handlungen können wieder aus einerlei Neigung gesponnen sein, wenn auch der Mensch, von welchem die Rede ist, nichts weniger denn eine solche Verwandtschaft ahndet. Stünde einmal, wie für die übrigen Reiche der Natur, auch für das Menschengeschlecht ein Linnäus (= Carl von Linné; 1707 -1778; Botaniker; schuf Systematisierung des Pflanzenreichs) auf, welcher nach Trieben und Neigungen klassifizierte, wie sehr würde man erstaunen, wenn man so manchen, dessen Laster in einer engen bürgerlichen Sphäre und in der schmalen Umzäunung der Gesetze jetzt ersticken muß, mit dem Ungeheuer Borgia (= Cesare Borgia; rücksichtsloser Mensch der Renaissancezeit; Ad) in einer Ordnung beisammen fände.                                                                                                                                         Von dieser Seite betrachtet, läßt sich manches gegen die gewöhnliche Behandlung der Geschichte einwenden, und hier, vermute ich, liegt auch die Schwierigkeit, warum das Studium derselben für das bürgerliche Leben noch immer so fruchtlos geblieben. Zwischen der heftigen Gemütsbewegung des handelnden Menschen und der ruhigen Stimmung des Lesers, welchem diese Handlung vorgelegt wird, herrscht ein so widriger Kontrast, liegt ein so breiter Zwischenraum, daß es dem letztern schwer, ja unmöglich wird, einen Zusammenhang nur zu ahnden. Es bleibt eine Lücke zwischen dem historischen Subjekt und dem Leser, die alle Möglichkeit einer Vergleichung oder Anwendung abschneidet und statt jenes heilsamen Schreckens, der die stolze Gesundheit warnet, ein Kopfschütteln der Befremdung erweckt. Wir sehen den Unglücklichen, der doch in eben der Stunde, wo er die Tat beging, so wie in der, wo er dafür büßet, Mensch war wie wir, für ein Geschöpf fremder Gattung an, dessen Blut anders umläuft als das unsrige, dessen Wille ändern Regeln gehorcht als der unsrige; seine Schicksale rühren uns wenig, denn Rührung gründet sich ja nur auf ein dunkles Bewußtsein ähnlicher Gefahr, und wir sind weit entfernt, eine solche Ähnlichkeit auch nur zu träumen. Die Belehrung geht mit der Beziehung verloren, und die Geschichte, anstatt eine Schule der Bildung zu sein, muß sich mit einem armseligen Verdienste um unsre Neugier begnügen. Soll sie uns mehr sein und ihren großen Endzweck erreichen, so muß sie notwendig unter diesen beiden Methoden wählen — Entweder der Leser muß warm werden wie der Held, oder der Held wie der Leser erkalten.

     Ich weiß, daß von den besten Geschichtsschreibern neuerer Zeit und des Altertums manche sich an die erste Methode gehalten und das Herz ihres Lesers durch hinreißenden Vortrag bestochen haben. Aber diese Manier ist eine Usurpation des Schriftstellers und beleidigt die republikanische Freiheit des lesenden Publikums, dem es zukömmt, selbst zu Gericht zu sitzen; sie ist zugleich eine Verletzung der Grenzengerechtigkeit, denn diese Methode gehört ausschließend und eigentümlich dem Redner und Dichter. Dem Geschichtsschreiber bleibt nur die letztere übrig.

                 Der Held muß kalt werden wie der Leser, oder, was hier ebensoviel sagt, wir müssen mit ihm bekannt werden, eh er handelt, wir müssen ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen, sondern auch wollen sehen. An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr als an seinen Taten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken als an den Folgen jener Taten. Man hat das Erdreich des Vesuvs untersucht, sich die Entstehung seines Brandes zu erklären; warum schenkt man einer moralischen Erscheinung weniger Aufmerksamkeit als einer physischen? Warum achtet man nicht in eben dem Grade auf die Beschaffenheit und Stellung der Dinge, welche einen solchen Menschen umgaben, bis der gesammelte Zunder in seinem Inwendigen Feuer fing? Den Träumer, der das Wunderbare liebt, reizt eben das Seltsame und Abenteuerliche einer solchen

Erscheinung; der Freund der Wahrheit sucht eine Mutter zu diesen verlorenen Kindern. Er sucht sie in der unveränderlichen Struktur der menschlichen Seele und in den veränderlichen Bedingungen, welche sie von außen bestimmten, und in diesen beiden findet er sie gewiß. Ihn überrascht es nun nicht mehr, in dem nämlichen Beete, wo sonst überall heilsame Krauter blühen, auch den giftigen Schierling gedeihen zu sehen, Weisheit und Torheit, Laster und Tugend in einer Wiege beisammen zu finden.

Wenn ich auch keinen der Vorteile hier in Anschlag bringe, welche die Seelenkunde aus einer solchen Behandlung der Geschichte zieht, so behält sie schon allein darum den Vorzug, weil sie den grausamen Hohn und die stolze Sicherheit ausrottet, womit gemeiniglich die ungeprüfte aufrechtstehende Tugend auf die gefallne herunterblickt, weil sie den sanften Geist der Duldung verbreitet, ohne welchen kein Flüchtling zurückkehrt, keine Aussöhnung des Gesetzes mit seinem Beleidiger stattfindet, kein angestecktes Glied der Gesellschaft von dem gänzlichen Brande gerettet wird.

 Ob der Verbrecher, von dem ich jetzt sprechen werde noch ein Recht gehabt hätte, an jenen Geist der Duldung zu appellieren? ob er wirklich ohne Rettung für den Körper des Staats verloren war? — Ich will dem Ausspruch des Lesers nicht vorgreifen. Unsre Gelindigkeit (= Nachsicht, Mitgefühl) fruchtet ihm nichts mehr, denn er starb durch des Henker Hand - aber die Leichenöffnung seines Lasters unterrichtet vielleicht die Menschheit und — es ist möglich lieh, auch die Gerechtigkeit.

Christian Wolf war der Sohn eines Gastwirts in einer . . . schen Landstadt (deren Namen man, aus Gründen, die sich in der Folge aufklären, verschweigen muß) und half seiner Mutter, denn der Vater war tot, bis in sein zwanzigstes Jahr die Wirtschaft besorgen. Die Wirtschaft war schlecht, und Wolf hatte müßige Stunden. Schon von der Schule her war er für einen losen Buben bekannt. Erwachsene Mädchen führten Klagen über seine Frechheit, und die Jungen des Städtchens huldigten seinem erfinderischen Kopfe. Die Natur hatte seinen Körper verabsäumt. Eine kleine unscheinbare Figur, krauses Haar von einer unangenehmen Schwärze, eine plattgedrückte Nase und schwollene Oberlippe, welche noch überdies durch den Schlag eines Pferdes aus ihrer Richtung gewichen war, gaben seinem Anblick eine Widrigkeit, welche alle Weiber von ihm zurückscheuchte und dem Witz seiner Kameraden eine reichlich Nahrung darbot. Er wollte ertrotzen, was ihm verweigert war; weil er missfiel, setzte er sich vor, zu gefallen. Er war sinnlich und beredete sich, daß er liebe. Das Mädchen, das er wählte, misshandelt. Ihn. (…)

                                                    *

           

    Beispiel 10     (psychologischer) Entwicklungsroman   -   (Briefroman) 

 

Johann Wolfgang Goethe  (1749 – 1832)

Die Leiden des jungen Werthers (1774)

 ERSTES BUCH

Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt und lege es euch hier vor und weiß, daß ihr mirs danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, seinem Schicksale eure Tränen nicht versagen.Und du, gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden und laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst! 

                                                                                                                                                  Am 4. Mai Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu sein! Ich weiß, du verzeihst mirs. Waren nicht meine übrigen Verbindungen recht ausgesucht vom Schicksal, um ein Herz wie das meine zu ängstigen? Die arme Leonore! Und doch war ich unschuldig. Könnt ich dafür, daß, während die eigensinnigen Reize ihrer Schwester mir eine angenehme Unterhaltung verschafften, daß eine Leidenschaft in dem armen Herzen sich bildete? Und doch - bin ich ganz unschuldig? Hab ich nicht ihre Empfindungen genährt? hab ich mich nicht an der ganz wahren Ausdrücken der Natur, die uns so oft zu lachen machten, so wenig lächerlich sie waren, selbst ergetzt? Hab ich nicht - O was ist der Mensch, daß er über sich klagen darf! Ich will, lieber Freund, ich verspreche dirs, ich will mich bessern, will nicht mehr ein bißchen Übel, das uns das Schicksal vorlegt, wiederkäuen wie ichs immer getan habe; ich will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein. Gewiß, du hast recht, Bester, der Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie nicht - Gott weiß, warum sie so gemacht sind! - mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraft sich beschäftigten, die Erinnerungen des vergangenen Übels zurückzurufen, eher als eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen.

Du bist so gut, meiner Mutter zu sagen, daß ich ihr Geschäft bestens betreiben und ihr ehstens Nachricht davon geben werde. Ich habe meine Tante gesprochen und bei weitem das böse Weib nicht gefunden, das man bei uns aus ihr macht.

Sie ist eine muntere, heftige Frau von dem besten Herzen. Ich erklärte ihr meiner Mutter Beschwerden über den zurückgehaltenen Erbschaftsanteil; sie sagte mir ihre Gründe, Ursachen und die Bedingungen, unter welchen sie bereit wäre, alles herauszugeben, und mehr als wir verlangten - kurz, ich mag jetzt nichts davor schreiben, sage meiner Mutter, es werde alles gut gehen. Und ich habe, mein Lieber, wieder bei diesem kleinen Geschäft gefunden, daß Mißverständnisse und Trägheit vielleicht mehr Irrungen in der Welt machen als List und Bosheit. Wenigstens sind die beiden letzteren gewiß seltener.

          Übrigens befinde ich mich hier gar wohl, die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese Jahrszeit der Jugend wärmt mit aller Fülle mein oft schauderndes Herz. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß von Blüten, und man möchte zum Maikäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumschweben und alle seine Nahrung darin finden zu können. Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechlicht Schönheit der Natur. Das bewog den verstorbenen Grafen von M.., seinen Garten auf einem der Hügel anzulegen, die mit der schönsten Mannigfaltigkeit sich kreuzen und die lieblichsten Täler bilden. Der Garten ist einfach, und man fühlt gleich bei dem Eintritte, daß nicht ein wissenschaftlicher Gärtner, sondern ein fühlendes Herz den Plan gezeichnet, das seiner selbst hier genießen wollte. Schon manche Träne hab ich dem Abgeschiedenen in dem verfallenen Kabinettchen geweint, das sein Lieblingsplätzchen war und auch meines ist. Bald werde ich Herr vom Garten sein; der Gärtner ist mir zugetan, nur seit ein paar Tagen, und er wird sich nicht übel dabei befinden.                                                                                                                                                                                                                                                                                               Am 10. Mai           Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, daß meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken. Wenn das liebe Tal um mich dampft und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden, wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält - mein Freund, wenns dann um meine Augen dämmert und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten, dann sehne ich mich oft und denke: „Ach, könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes!" - Mein Freund - Aber auch gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.                                                                                                                                                                                                                                                             Am 12. Mai.      Ich weiß nicht, ob täuschende Geister um diese Gegend schweben oder ob die warme, himmlische Phantasie in meinem Herzen ist, die mir alles rings umher so paradiesisch macht. Da ist gleich vor dem Orte ein Brunnen, ein Brunnen, an den ich gebannt bin wie Melusine mit ihren Schwestern. - Du gehst einen kleinen Hügel hinunter und findest dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinabgehen, wo unten das klarste Wasser aus Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer, die oben umher die Einfassung macht, die hohen Bäume, die den Platz rings umher bedecken, die Kühle des Orts, das hat alles so was Anzügliches, was Schauerliches. Es vergeht kein Tag, daß ich nicht eine Stunde da sitze. Da kommen dann die Mädchen aus der Stadt und holen Wasser, das harmloseste Geschäft und das nötigste, das ehemals die Töchter der Könige selbst verrichteten. Wenn ich da sitze, so lebt die patriarchalische Idee so lebhaft um mich, wie sie alle, die Altväter, am Brunnen Bekanntschaft machen und freien, und wie um die Brunnen und Quellen wohltätige Geister schweben. 0 der muß nie nach einer schweren Sommertagswanderung sich an des Brunnens Kühle gelabt haben, der das nicht mitempfinden kann.

                              Am 13. Mai

Du fragst, ob du mir meine Bücher schicken sollst? – Lieber, ich bitte dich um Gottes willen, laß mir sie vom Halse! Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braust dieses Herz doch genug aus sich selbst; ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer. (…)

 

             Beispiel 11 - Abenteuerroman

               

(Gisander=) Johann Gottfried Schnabel  (1692 – nach 1750)

Insel Felsenburg. Wunderliche FATA Einiger See-Fahrer, absonderlich Albertii Julii, eines gebohrenen Sachsens, welcher in seinem 18ten Jahre zu Schiffe gegangen, durch Schiff-Bruch selbst 4te an eine grausame Klippe geworffen worden, nach deren Übersteigung das schönste Land entdeckt, sich daselbst mit seiner Gefährtin verheyrathet, aus solcher Ehe eine Familie von mehr als 300 Seelen erzeuget, das Land vortrefflich angebauet, durch besondere Zufälle erstaunens- würdige Schätze gesammlet, seine in Teutschland ausgekundschafften Freunde glücklich gemacht, am Ende des 1728sten Jahres, als in seinem Hunderten Jahre, annoch frisch und gesund gelebt, und vermutlich noch zudato lebt, entworfen von dessen Bruders=Sohnes= Sohnes = Sohne, Mons. Eberhard Julio Curieusen Lesern aber zum vermuthlichen Gemüths=Vergnügen ausgefertiget, auch par Commission dem Drucke übergeben von          

                                      Gisandern

                                                                    Anno 1731

 Erstes Buch. (1731 – 1743 , Viertes Buch) ) 

OB denenjenigen Kindern, welche um die Zeit gebohren werden, da sich Sonnen- oder Mond-Finsternissen am Firmamente praesentiren, mit Recht besondere Fatalitäten zu prognosticiien seyn? Diese Frage will ich den gelehrten Natur-Kündigern zur Erörterung überlassen, und den Anfang meiner vorgenommenen Geschichts-Beschreibung damit machen: wenn ich dem Geneigten Leser als etwas merckliches vermelde: daß ich Eberhard Julius den 12. May 1706. eben in der Stunde das Licht dieser Welt erblickt, da die bekandte grosse Sonnen-Finstemiß ihren höchsten und fürchterlichsten grad erreicht hatte. Mein Vater, der ein wohlbemittelter Kauffmann war, und mit meiner Mutter noch kein völliges Jahr im Ehestände gelebt, mochte wegen gedoppelter Bestürtzung fast gantz ausser sich selbst gewesen seyn; Jedoch nachdem er bald darauf das Vergnügen hat meine Mutter ziemlich frisch und munter zu sehen, mich aber als seinen erstgebohrnen jungen, gesunden Sohn zu küssen, hat er sich, wie mir erzehlet worden, vor Freuden kaum zu bergen gewust.

 Ich trage Bedencken von denenjenigen tändeleyen viel Wesens zu machen, die zwischen meinen Eltern als jungen Eheleuten und mir als ihrer ersten Frucht der Liebe, in den ersten Kinder-Jahren vorgegangen. Genung! ich wurde von ihnen, wiewohl etwas zärtlich, jedoch christlich und ordentlich erzogen, weil sie mich aber von Jugend an dem studiren gewidmet, so muste es keines weges an gelehrten und sonst geschickten Lehr-Meistem ermangeln, deren getreue Unterweisung nebst meinen unermüdeten Fleisse so viel würckte, daß ich auf Einrathen vieler erfahrner Männer, die mich examiniit hatten, in meinem 17den Jahre nehmlich um Ostern 1723. auf die Universität Kiel nebst einem guten Anführer reisen körne. Ich legte mich auf die Jurisprudentz nicht so wohl aus meinem eigenen Antriebe, sondern auf Begehren meiner Mutter, welche eines vornehmen Rechts-Gelehrten Tochter war. Allein ein hartes Verhängnis ließ mich die Früchte ihres über meine guten Progressen geschöpfften Vergnügens nicht lange gemessen, indem ein Jahr hernach die schmertzliche Zeitung bey mir einlieft, daß meine getreue Mutter am l6. Apr. 1724. samt der Frucht in Kindes-Nöthen Todes verblichen sey. Mein Vater verlangte mich zwar zu seinem Tröste auf einige Wochen nach Hause, weiln, wie er schrieb, weder meine eintzige Schwester, noch andere Anverwandte seinen Schmertzen einige Linderung verscharfen körnen. Doch da ich zurücke schrieb: daß um diese Zeit alle Collegia aufs neue angiengen, weßwegen ich nicht allein sehr viel versäumen, sondern über dieses seine und meine Hertzens-Wunde ehe noch weiter aufreissen als heilen würde, erlaubte mir mein Vater» nebst Übersendung eines Wechsels von 200. spec. Ducaten noch ein halbes Jahr in Kiel zu bleiben, nach Verfliessung dessen aber solte nach Hause kommen über Winters bey ihm zu verharren, so dann im Früh-Jahre das galante Leipzig zu besuchen, und meine studia daselbst zu absolviren.

Sein Wille war meine Richt-Schnur, dannenhero die noch übrige : in Kiel nicht verabsäumete mich in meinen ergriffenen Studio nach möglichkeit zu cultiviren, gegen Martini aber mit den herrlichsten Attestaten meiner Professoren versehen nach Hause reisete. Es war mir zwar eine hertzliche Freude, meinen werthen Vater und liebe Schwester nebst andern Anverwandten und guten Freunden in völligen Glücks-Stande anzutreffen; allein der Verlust der Mutter that derselben ungemeinen Einhalt. Kurtz zu sagen: es war kein einziges divertissement, so mir von meinem Vater, so wohl auch andern Freunden gemacht wurde, vermögend, das einwurtzelende melancholische Wesen aus meinem Gehirn  vertreiben. Derowegen nahm die Zuflucht zu den Büchern und suchte darinnen mein verlohrnes Vergnügen, welches sich denn nicht selten in selbigen finden ließ.

Mein Vater bezeigte theils Leid, theils Freude über meine douce Aufführung, resolvirte sich aber bald, nach meinen Verlangen mich ohne Aufseher, oder wie es zuweilen heissen muß, Hofmeister, mit 300 fl. und einem Wechsel-Briefe auf 1000. Thl. nach Leipzig zu schaffen, alwo ich den 4. Märt. 1725. glücklich ankam.                                                                                                                               Wer die Beschaffenheit dieses in der gantzen Welt berühmten Orts nur einigermassen weiß, wird leichtlich glauben: daß ein junger Pursche, mit so vielem haaren Gelde versehen, daselbst allerhand Arten von vergnügten Zeit-Vertreibe zu suchen Gelegenheit findet. Jedennoch war mein Gemüthe mit beständiger Schwermüthigkeit angefüllet, angefüllet, ausser wenn ich meine Collegia frequentirte und in meinem Museo mit den Todten conversirte.

Ein Lands-Mann von mir, Mons. H. - - — genannt merckte mein malheur bald, weil er ein Mediciner war, der seine Hand allbereit mit gröster raison nach dem Doctor-Hute ausstreckte.

                *

                                             Beispiel 12 - Schelmenroman

 

H. J. Ch. Grimmelshausen  (1620 – 1676)

Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage ( 1670)

DAS I. KAPITEL

Gründlicher und notwendiger Vorbericht, wem zu Liebe und Gefallen und aus was dringenden Ursachen die alte Erzbetrügerin, Landstörzerin und Zigeunerin Courage ihren wundernswürdigen und recht seltsamen Lebenslauf erzählt und der ganzen Welt vor die Augen stellt

Ja, werdet ihr sagen, ihr Herren, wer sollte wohl gemeint haben, daß sich die alte Schell einmal unterstehen würde, dem künftigen Zorn Gottes zu entrinnen? Aber was kann's helfen? Sie muß wohl! Denn das Herumtollen ihrer Jugend hat sich geendigt! Ihr Mutwill und Vorwitz hat sich gelegt, ihr beschwertes und geängstigtes Gewissen ist aufgewacht, und das verdrossene Alter hat sich bei ihr eingestellt, welches ihre vorigen überhäuften Torheiten länger zu treiben sich schämt und die begangenen Stuck länger im Herzen verschlossen zu tragen ein Ekel und Abscheu hat. Das alte Rabenaas fängt einmal an zu sehen und zu fühlen, daß der gewisse Tod nächstens bei ihr anklopfen werde, ihr den letzten Seufzer abzunötigen, vermittelst dessen sie unumgänglich in eine andere Welt verreisen und von allem ihrem hiesigen Tun und Lassen genaue Rechenschaft geben muß.

Darum beginnt sie im Angesicht der ganzen Welt, sich alten Esel von überhäufter Last seiner Beschwerden zu entladen, ob sie sich vielleicht um so viel erleichtern möchte, daß sie Hoffnung schöpfen könnte, noch endlich die himmlische Barmherzigkeit zu erlangen. Ja, ihr lieben Herren, das werdet ihr sagen. Andere aber werden denken: Sollte sich die Courage wohl einbilden dörfen, ihre alte, zusammengeschrumpelte Haut wiederum weiß zu machen, die sie in der Jugend mit französischer Grindsalb, folgends mit allerhand italian und spanischer Schminke und endlich mit ägyptischer Läussalben und vielem Gänsschmalz geschmiert, beim Feuer schwarz geräuchert und so oft eine andere Farbe anzunehmen gezwungen? Sollte sie wohl vermeinen, sie werde die eingewurzelten Runzeln ihrer lasterhaften Stirn austilgen und sie wiederum in den glatten Stand ihrer ersten Unschuld bringen, wie sie dergestalt ihre Bubenstück und begangene Laster berichtsweis dahererzählt, um sie von ihrem Herzen zu räumen? Sollte wohl diese alte Vettel jetzt, da sie alle beide Füße bereits im Grab hat, wann sie anders würdig ist, eines Grabs teilhaftig zu werden, diese Alte - werdet ihr sagen -, die sich ihr Lebtag in allerhand Schand und Lastern herumgewälzt und mit mehr Missetaten als Jahren, mit mehr Hurenstücken als Monaten, mit mehr Diebsgriffen als Wochen, mit mehr Todsünden als Tagen und mit mehr gemeinen Sünden als Stunden beladen, die, deren so alt sie auch ist, noch niemal keine Bekehrung in Sinn kommen, sich unterstehen mit Gott zu versöhnen? Vermeint sie wohl anjetzo noch zurechtzukommen, da sie allbereit in ihrem Gewissen anfängt mehr höllische Pein und Marter auszustehen, als sie ihre Tage Wollüste genossen und empfunden? Ja, wenn diese unnütze abgelebte Last der Erden neben solchen Wollüsten sich nicht auch in allerhand ändern Erzlastern herumgewälzt, ja gar in der Bosheit allertiefsten Abgrund begeben und versenkt hätte, so möchte sie noch ein wenig Hoffnung zu fassen die Gnad haben können. Ja, ihr Herren, das werdet ihr sagen, das werdet ihr denken, und also werdet ihr euch über mich verwundern, wann euch die Zeitung von meiner Haupt- und Generalbeicht zu Ohren kommt. Und wenn ich solches erfahre, so werde ich meines Alters vergessen und mich entweder wieder jung oder zu Stücken lachen! Warum das, Courage? Warum wirst du lachen? Darum, daß ihr vermeint, ein altes Weib, die des Lebens so lange Zeit wohl gewohnt und die sich einbildet, die Seele sei ihr gleichsam angewachsen, gedenke an das Sterben. Eine solche, wie ihr wißt, dass ich bin und mein Lebtag gewesen, gedenke an Bekehrung! Und diejenige, so ihren ganzen Lebenslauf, wie mir die Pfaffen zu sprechen pflegen, der Höllen zugerichtet, gedenke nun erst an den Himmel. Ich bekenne unverhohlen, daß ich mich auf solche Hinreis, wie mich die Pfaffen überreden wollen, nicht rüsten noch dem, was mich ihrem Vorgeben nach ver hindert, völlig zu resignieren habe entschließen können; als wozu ich ein Stück zu wenig, hingegen aber etlicher, vornehmlich aber zweier zu viel habe. Das, so mir ermangelt, ist die Reu; und was mir mangeln sollte, ist der Geiz und der Neid. Wenn ich aber meinen Klumpen Gold, den ich mit Gefahr Leib und Lebens, ja, wie mir gesagt wird, mit Verlust der Seligkeit zusammengeraspelt, so sehr hasse, als ich meinen Nebenmenschen neide, und meinen Nebenmenschen so hoch liebte als mein Geld, so möchte vielleicht die himmlische Gabe der Reue auch folgen. Ich weiß die unterschiedlichen Alter eines jeden Weibsbilds und bestätige mit meinem Exempel, daß alte Hund schwerlich zu bändigen. Das Gallige hat sich mit den Jahren bei mir vermehrt, und ich kann die Gall nicht herausnehmen, solche, wie der Metzger einen Säumagen, umzukehren und auszuputzen. Wie sollte ich dann dem Zorn widerstehen mögen? Wer will mir das überhäufte Phlegma evakuieren und mich also von der Trägheit kurieren? Wer benimmt mir die melancholische Feuchtigkeit und mit derselbigen die Neigung zum Neid? Wer wird mich überreden können, die Dukaten zu hassen, da ich doch aus langer Erfahrung weiß, daß sie aus Nöten erretten und der einzige Trost meines Alters sein können? Damal, damal, ihr Herren Geistliche, war's Zeit, mich auf denjenigen Weg zu weisen, den ich eurem Rat nach jetzt erst antreten soll, als ich noch in der Blut meiner Jugend und in dem Stand meiner Unschuld lebte; denn obgleich damals die gefährliche Zeit der kitzelhaften Anfechtung anging, so wäre mir doch leichter gewesen, dem sanguinischen Antrieb als jetzunder dem gewaltsamen Anlauf der übrigen drei ärgsten Feuchtigkeiten . zugleich zu widerstehen. Darum geht hin zu solcher Jugend, deren Herzen noch nicht, wie der Courage, mit anderen Bildnissen befleckt sind, und lehrt, ermahnt, bittet, ja beschwört sie, daß sie es aus Unbesonnenheit nimmermehr so weit soll kommen lassen, als die arme Courage getan. Aber höre, Courage, wenn du noch nicht im Sinn hast, dich zu bekehren, warum willst du dann deinen Lebenslauf berichtsweis erzählen und aller Welt deine Laster offenbaren? Das tu' ich dem Simplicissimo zu Trutz! Weil ich mich andrer Gestalt nicht an ihm rächen kann; denn nachdem dieser Leichtfuß mich im Sauerbrunnen geschwängert hat (das heißt, wie er's glaubte) und hernach durch einen spöttischen Possen von sich geschafft, geht er erst hin und ruft meine und seine eigene Schand vermittelst seiner schönen Lebensbeschreibung vor aller Welt aus; aber ich will ihm jetzund hingegen erzählen, mit was für einem ehrbaren Zobelgen er zu schaffen gehabt, damit er wisse, wessen er sich gerühmt, und vielleicht wünscht, daß er von unserer Historie allerdings stillgeschwiegen hätte; woraus aber für die ganze ehrbare Welt abzunehmen, daß gemeiniglich Hengst und Stute, Huren und Buben eines Gelichters und keins um ein Haar besser als das ander sei; gleich und gleich gesellt sich gern, sprach der Teufel zum Köhler; und die Sünden und Sünder werden wiederum gemeiniglich durch Sünden und Sünder gestraft.

                *

                                       Beispiel  13  Schäferroman

     

Jüngst-erbawete Schaefferey oder keusche Liebes-Beschreibung                              Von Der verliebten Nimfen Amoena, und dem Lobwürdigen Schäffer Amandus,           Besagten beyden Amanten, so wol zu bezeigung hoechsttulicher Dienstfertigkeit               als zu Versicherung geneigter Gunstgewogenheit vbersetzet/

Durch A. S. D. D.                                                                              Leipzig/ in Verlegung Eliae Rehefelds/ Buchhaendl. Im Jahre 1632

 

Vorrede

An das Adliche/ lieb-löbliche Frawenzimmer.  Allerschönste/ liebzwingende Damen

( . . .)  s. PDF

An den Freundlichen Leser.

HJegische [hiesige] historische Beschreibung zweyer Liebhabenden / welche ich nicht alleine zu Vollziehung des gnädigen Ansinnens der schönen Amoena, sondern auch zu Vertreibung der Verdrießligkeit der Zeit auffgesetzet / habe ich dir / Geehrter Leser / zu freundlichem Gefallen / öffentlichem Druck vntergeben / verhoffende / du werdest die wolgemeynte Ringfügigkeit dieser Schrifft dir zu Beliebung gelangen lassen / vnd günstig hiermit vor willen nehmen. Jch habe hierinnen / so viel mir meine wenige Vnvermögenheit erlaubet / Opitianischer Art im Schreiben nachgehangen / vnd auff Geheiß seiner Prosodi, alle Lateinische Nomina in jhrem Nominative gesetzet / welches du mir nicht vor eine Ignorantz beymessen wollest. Jm Fall sich aber etwa ein Mangel / wider meinen Bewust / hierinnen ereignen möchte / so bitte ich / du wollest die Enge der Zeit / welche ich zu Auffsetzung hiesiger historischen Liebes-Beschreibung gehabt / mich bey dir entschuldigen lassen.

Dieweiln aber nichts auff der gantzen Welt so vollkommen / das nicht von den gifftigen Lästermäulern getadelt werden solte / als weis ich gar wol / daß auch dieses mein Wercklein sein Vrtheil werde leiden müssen / Jch tröste mich aber der Reymen / welche Opitz in seinen Sonnetten saget:

      Es muß ein jegliA Ding der MensAen Vrtheil leiden /

      Vnd manAer dendit / was er niAt kan / das muß er neiden.

Jch aber / wil lieber mich selbst verachten lassen / als andere verachten. Denn von solchen Leuten verachtet werden / derer vngültige Schmehworte vns keinen Schaden beyfügen können / ist (wie Seneca saget) so viel / als gelobet werden.

Damit du aber / du Schmachsüchtiger Zoilus, nicht etwa vermeynen mögest / es were dir von mir / vnd dieser meiner auffgesetzten Historien verkleinerliche Worte außzuschütten / freygelassen. So wisse / daß ich das / was mein Mund der Feder vertrawet hat / entweder mit der Faust / oder mit der Feder / als einem Cavalier zustehet / solcher gestalt vertheidigen wil / daß du hinfüro einen Vnbekandten mit verhaßten Worten zu berühren / dich nicht bald wiederumb vnterfangen sollest.

Dofern dir aber /geneigter Leser/ meine wenige Person oder Nam etwa dir bekandt seyn möchte / so beschiehet an dich meine freundliche Ansuchung / du wollest mir in Erweisung angenehmen Wolwillens / so viel stat thun / meinen Namen / oder die Vermeldung meiner Person zu verschweigen. Sintemaln ich solches / wegen erheblicher Wichtigkeit / gernest geheim halten wolte / dahero ich denn auch meinen Namen zu vnferzeichnen / Bedencken genommen. Diese hohe Annehmligkeit / mit geneigter Freundschafft / dir schuldiger massen zu wieder vergelten / wird jhm je vnd allewege höchst angelegen halten.

        Dein

        Beharrlicher Freund  Schindschersitzky  A. S. D. D.

        Datum

        In der schönen Amoena  Behausung zu N. Jm Jahr 1632

    VNfem vonArcadien inMagernia [Germania], liget eine Provintz Elisia [Silesia = Schlesien] geheissen / darinnen ist nahe dem Fluß Erado [Odera == Oder] eine Volckreiche vnd weitberuffene Stadt / welche gedachter Fluß an allen Orten bezircket / vnd vor feindlichem Anlauff wol befestiget. Darinnen wohnete einesmals ein vornehmer Schäffer/ mit Namen N / ein damaliger Printz vnd Obrister aller gesampten Schäffer/ in gantz Elsisien, welcher seine vber alle andere Schäffer habenden Pflege vnd Auffsicht / wegen annahenden nunmehr hoch bejahreten Alters/ seinen Söhnen vbergeben hette.

Dieser mehrerregte Schärfer hatte eine Tochter / Amoena geheißen/ welche wegen jhrer vbermenschlichen vnd vn vergleichlichen Schönheit/ so der günstige Himmel vnd die mildreiche Natur häuffig vber sie außgegossen / von allen Schäfern des gantzen Landes für eine Göttin gehalten vnd geehret wurde.  Du hettest sie mit gutem Titul nenen können:  Ein allervollkommenes Meisterstücke des Himels / einen Auffzug oder eine Seele aller himlischen Schönheiten / einen Triumpff der Natur / ein Wunder des Erdbodens / ein werck aller Vollkomenheit / ein keusches Wohnhaus der Graden. Den sie war mit allen nur ersinnlichen Schönheiten / so eine Dam könen verwunderlich machen / gekrönet / daß man sie mit nichts andrem / als mit jhr selbsten hette vergleichen können. ( . . .)

         

                    *

                        Beispiel 14  Gelehrtenroman (Briefroman-Satire)

 

                               Dunkelmännerbriefe (Epistolae obscurorum virorum)

                                               anonym erschienen ab 1515

 

Thomas Langschneider, wohlbestallter, obgleich unwürdiger Bakkalaureus der Theologie entbeut seinen Gruß dem hochansehnlichen und hochgelahrten Herrn Ortuin Gratius aus Deventer, Poeten, Redner, Philosophen, auch Theologen  und noch mehr, wenn ihm beliebt. (Kp 1)

Sintemal es, wie Aristoteles sagt, nicht ohne Nutzen ist, in einzelnen Fällen dem Zweifel Raum zu geben, und da im Prediger [Salomonis] zu lesen steht: »ich habe mir vorgesetzt in meinem Herzen, zu fragen und nachzuforschen über alles, was unter der Sonne ist: so habe denn auch ich mir vorgesetzt eine Frage, worüber ich in Zweifel bin bei Ew. Herrlichkeit in Anregung zu bringen. Zuvörderst aber nehme ich den heiligen Gott zum Zeugen, daß ich Ew. Herrlichkeit oder Hochwürden auf keine Probe stellen will, vielmehr nur den aus lauterstem Herzen kommenden Wunsch hege, Ihr möchtet mich über diesen meinen Zweifel belehren. Sintemal im Evangelio geschrieben steht: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen«, und - wie Salomo sagt - »alle Weisheit von Gott ist«, Ihr aber mir alle Kenntnis, die ich besitze, verliehen habt, und jede gute Kenntnis die Urquelle der Weisheit ist: so seid Ihr gewissermaßen mein Gott, weil Ihr - um mich poetisch auszudrücken - mir den Anfang der Weisheit verliehen habt. Veranlaßt aber ist meine Frage durch folgenden Umstand worden. Vor längerer Zeit fand hier ein [sogenannter] Aristotelischer Schmaus statt. Doktoren, Lizentiaten und Magister waren äußerst heiter, und auch wir nahmen vorerst drei Schlücke Malvasier, dann stellten wir als ersten Gang neugebackene Semmeln auf und bereiteten eine Suppe; nach diesem hatten wir sechs Schüsseln mit Fleisch, Hühnern und Kapaunen und eine mit Fischen; und wie es so von einer Schüssel an die andere ging, tranken wir Kotzberger und Rheinwein, auch Einbecker, Torgauer und Naumbuger Bier. Die Magister waren recht vergnügt und sagten: »Die neugebackenen Herren Magister hätten sich gut herausgebissen und sehr honorisch benommen.« Hierauf begannen die angejubelten Magister kunstgerecht über wichtige Fragen zu sprechen, und einer warf die Frage auf: ob man sagen müsse »magister nostrandus« oder »noster magistrandus«, um damit eine Person zu bezeichnen, die fähig ist, Doktor in der Theologie zu werden, wie dermalen in Cöln Pater Theodorich von Ganda, der Honigmund, hochwürdigster Legat der segenspendenden Universität Cöln, wohlfürsichtiger Kenner der freien Künste, Philosoph, Meister in der Beweisführung und höchst ausgezeichneter Gottesgelehrter. Allsogleich war mein Landsmann, Magister Warmsemmel, mit einer Antwort zur Hand - der Mann ist ein gar scharfsinniger Skotist, schon seit achtzehn Jahren Magister, wurde zwar seiner Zeit beim Magistrieren zweimal zurückgewiesen, dreimal gab's [sonstige] Hindernisse, dennoch hielt er auch ferner noch aus, bis er, der Ehre der Universität zu Liebe, promoviert wurde. Er versteht seine Sachen gut, hat viele Schüler, kleine und große, alte und junge; seine Rede zeugte von hoher Verstandesreife, und er hielt dafür, daß man sagen müsse »noster magistrandus«: dies sei eine einzige Bezeichnung, denn magistrare heiße so viel als einen zum Magister machen, wie baccalauriare zum Bakkalaureus machen und doctorare zum Doktor machen, und daher kämen jene Kunstausdrücke: magistrandus, baccalauriandus und doctorandus. Weil aber die Doktoren der h. Theologie nicht Doktoren genannt werden, sondern aus Demut und Heiligkeit und zur Unterscheidung den Titel »unsere Magister« führen; da sie nach dem katholischen Glauben an der Stelle unseres Herrn Jesu Christi stehen, der die Quelle des Lebens ist, Christus aber unser aller Meister war: daher werden auch sie »unsere Meister« genannt, indem sie uns zu unterrichten haben auf dem Wege zur Wahrheit, und Gott die Wahrheit ist. Derowegen heißen sie mit Recht »unsere Meister«, weil wir alle, als Christen, schuldig und gehalten sind, ihre Predigt zu hören, und niemand darf ihnen widersprechen, darum, daß sie unser aller Meister sind. Dagegen ist »nostro«, »tra«, »trare« nicht gebräuchlich, und steht weder im Wörterbuch »Ex quo«, noch im »Cailiolicon«, noch im »Breviloquium«, noch in der »Gemma Gemmarum« , die doch eine Menge Kunstausdrücke enthält: somit muß man sagen: »noster magistrandus« und nicht »magister nostrandus«. Darauf Magister Andreas Delitzsch höchst scharfsinnig, einesteils als Poet, andernteils als Kenner der schönen Künste, Arzt und Jurist, der bereits öffentliche Vorlesungen über Ovids Metamorphosen hält und alle Fabeln allegorisch und buchstäblich erklärt - dessen Schüler auch ich bin, weil seine Erklärung sehr gründlich ist - und der auch ein Privatissimum über den Quinktilian und Juvenkus liest: dieser hielt dem M. Warmsemmel Widerpart mit den Worten: man müsse sagen: »magister nostrandus«; denn, wie ein Unterschied sei zwischen magister noster und noster magister, so sei auch ein Unterschied zwischen magister nostrandus und noster magistrandus; nämlich magister noster nenne man den Doktor der Theologie, und es sei dies eine einzige Bezeichnung, dagegen noster magister seien zwei Bezeichnungen, worunter man jeden beliebigen Magister in jeder freien Kunst begreife, bestehe diese in Hand- oder Kopfarbeit. Auch das sei kein Grund dagegen, daß »nostro«, »tras«, »trare« nicht gebräuchlich sind, da wir ja neue Wörter bilden können; und zum Beleg hierfür führte er den Horaz [Ars poët. v. 52 sqq.] an. Auf das zollten die Magister seinem Scharfsinn große Bewunderung, und einer brachte ihm eine Kanne Naumburger Bier zu; er aber sagte: »ich will noch warten, mit Verlaub«, griff an sein Barett, lachte vergnügt und brachte es dem M. Warmsemmel zu mit den Worten: »Hier, Herr Magister! Ihr dürft nicht glauben, daß ich Euer Feind bin«, und trank in einem Atemzuge; M. Warmsemmel aber tat ihm tapfer Bescheid, zu Ehren der Schlesier. Die Magister alle waren recht lustig, und hierauf wurde zur Vesper geläutet. Derohalb bitte ich Ew. Excellenz, Ihr wollt mir Eure Ansicht auseinandersetzen, weil Ihr so gar tief gelehrt seid. Ich sagte nämlich damals: »M. Ortuin soll mir wohl die Wahrheit schreiben, denn er war mein Lehrer in Deventer, als ich die dritte Klasser besuchte.« Auch müßt Ihr mir genau berichten, wie es mit dem Zwiste zwischen Euch und Dr. Johannes Reuchlin steht, da ich vernommen habe, daß dieser Lotterbube - obgleich er Doktor und Rechtsgelehrter ist - seine Worte noch nicht widerrufen will. Und schicket mir doch auch einmal das Buch unsers Meisters Arnold von Tongern, welches er unter dem Titel »Articuli (et Propositiones)« verfaßt hat; es ist sehr scharfsinnig geschrieben und handelt von vielen tiefliegenden Fragen in der Theologie. Lebet wohl und nehmet nicht vorübel, daß ich Euch in so vertraulichem Tone schreibe; Ihr habt mir ja längst schon gesagt, daß Ihr mich liebet wie ein Bruder und mir in allem förderlich sein wollet, selbst wenn Ihr viel Geld an mich rücken müßtet. Gegeben zu Leipzig.

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