Ehepaar_Busch2

 

  Lesen schadet den Augen

 

IMG_0010-red

 

                        Werthers Begegnung mit Heinrich  

                 Textuntersuchung und literarische Textproduktion

 

 Aufgabe:

1. Untersuchen Sie den Brief Werthers vom 30. November  - auch auf dem Hintergrund Ihrer kompletten Romankenntnis – nach den gängigen Kriterien der Prosa-Analyse  bzw.  –Interpretation.                           (Schreiben Sie adressatenbezogen!)

2.  Schreiben Sie den Romananfang um aus Sicht eines auktorialen Er-Erzählers. Typische Merkmale der Epoche (Stil – Gedankengut etc.) sollen erkennbar sein.

 

Text: Die Leiden des jungen Werthers (II. Buch, 30. November)

Ich soll, ich soll nicht zu mir selbst kommen! Wo ich hintrete, begegnet mir eine Erscheinung, die mich aus aller Fassung bringt. Heute! o Schicksal! o Menschheit!

          Ich gehe an dem Wasser hin in der Mittagsstunde, ich hatte keine Lust zu essen. Alles war öde, ein nasskalter Abendwind blies vom Berge und die grauen Regenwolken zogen das Tal hinein. Von fern seh ich einen Menschen in einem grünen, schlechten Rocke, der zwischen den Felsen herumkrabbelte und Kräuter zu suchen schien. Als ich näher zu ihm kam und er sich auf das Geräusch, das ich machte, herumdrehte, sah ich eine gar interessante Physiognomie, darin eine stille Trauer den Hauptzug machte, die aber sonst nichts als einen geraden guten Sinn ausdrückte; seine schwarzen Haare waren mit Nadeln in zwei Rollen gesteckt und die übrigen in einen starken Zopf geflochten, der ihm den Rücken herunterhing. Da mir seine Kleidung einen Menschen von geringem Stande zu bezeichnen schien, glaubte ich, er würde es nicht übel nehmen, wenn ich auf seine Beschäftigung aufmerksam wäre, und daher fragte ich ihn, was er suchte? - „Ich suche", antwortete er mit einem tiefen Seufzer, „Blumen - und finde keine." - „Das ist auch die Jahreszeit nicht", sagte ich lächelnd. - „Es gibt so viele Blumen", sagte er, indem er zu mir herunterkam. „In meinem Garten sind Rosen und Jelängerjelieber zweierlei Sorten, eine hat mir mein Vater gegeben, sie wachsen wie Unkraut; ich suche schon zwei Tage darnach und kann sie nicht finden. Da haußen sind auch immer Blumen, gelbe und blaue und rote, und das Tausendgüldenkraut hat ein schönes Blümchen. Keines kann ich finden." - Ich merkte was Unheimliches und drum fragte ich durch einen Umweg: „Was will Er denn mit den Blumen?" - Ein wunderbares, zuckendes Lächeln verzog sein Gesicht. - „Wenn Er mich nicht verraten will", sagte er, indem er den Finger auf den Mund drückte, „ich habe meinem Schatz einen Strauß versprochen." - „Das ist brav", sagte ich. - „Oh", sagte er, „sie hat viel andere Sachen, sie ist reich." - „Und doch hat sie Seinen Strauß lieb", versetzte ich. - „Oh!", fuhr er fort, „sie hat Juwelen und eine Krone." „Wie heißt sie denn?" -  „Wenn mich die Generalstaaten bezahlen wollten", versetzte er, „ich war ein anderer Mensch! Ja, es war einmal eine Zeit, da mir es so wohl war! Jetzt ist es aus mit mir. Ich bin nun..." Ein nasser Blick zum Himmel drückte alles aus. - „Er war also glücklich?", fragte ich. - „Ach ich wollte, ich wäre wieder so!", sagte er. „Da war mir es so wohl, so lustig, so leicht wie einem Fisch im Wasser!" - „Heinrich!", rief eine alte Frau, die den Weg herkam. „Heinrich, wo steckst du? Wir haben dich überall gesucht, komm zum Essen!" - „Ist das Euer Sohn?", fragt' ich, zu ihr tretend. - „Wohl, mein armer Sohn!", versetzte sie. „Gott hat mir ein schweres Kreuz aufgelegt." - „Wie lange ist er so?", fragte ich. - „So stille", sagte sie, „ist er nun ein halbes Jahr. Gott sei Dank, dass er nur so weit ist, vorher war er ein ganzes Jahr rasend, da hat er an Ketten im Tollhause gelegen. Jetzt tut er niemand nichts, nur hat er immer mit Königen und Kaisern zu schaffen. Er war  ein so guter, stiller Mensch, der mich ernähren half, seine schöne Hand schrieb, und auf einmal wird er tiefsinnig, fällt in ein hitziges Fieber, daraus in Raserei und nun ist er, wie Sie ihn sehen. Wenn ich Ihnen erzählen sollte, Herr ..." Ich unterbrach den Strom ihrer Worte mit der Frage: „Was war denn das für eine  Zeit, von der er rühmt, dass er so glücklich, so wohl darin gewesen sei?" - „Der törichte Mensch!", rief sie mit mitleidigem Lächeln, „da meint er die Zeit, da er von sich war, das rühmt er immer; das ist die Zeit, da er im Tollhause war, wo er nichts von sich wusste." - Das fiel mir auf wie ein Donnerschlag, ich drückte ihr ein Stück Geld in die Hand und verließ sie eilend.

     Da du glücklich warst!, rief ich aus, schnell vor mich hin nach der Stadt zu gehend, da dir es wohl war wie einem Fisch im Wasser! - Gott im Himmel! hast du das zum Schicksale der Menschen gemacht, dass sie nicht glücklich sind, als ehe sie zu ihrem Verstande kommen und wenn sie ihn wieder verlieren! - Elender! und auch wie beneide ich deinen Trübsinn, die Verwirrung deiner Sinne, in der du verschmachtest! Du gehst hoffnungsvoll aus, deiner Königin Blumen zu pflücken - im Winter - und trauerst, da du keine findest, und begreifst nicht, warum du keine finden kannst. Und ich – und ich gehe ohne Hoffnung, ohne Zweck heraus und kehre wieder heim, wie ich gekommen bin. - Du wähnst, welcher Mensch du sein würdest, wenn die Generalstaaten dich bezahlten. Seliges Geschöpf, das den Mangel seiner Glückseligkeit einem irdischen Hindernis zuschreiben kann. Du fühlst nicht, du fühlst nicht, dass in deinem zerstörten Herzen, in deinem zerrütteten Gehirne dein Elend liegt, wovon alle Könige der Erde dir nicht helfen können.

     Müsse der trostlos umkommen, der eines Kranken spottet, der nach der entferntesten Quelle reist, die seine Krankheit vermehren, sein Ausleben schmerzhafter machen wird! der sich über das bedrängte Herz erhebt, das, um seine Gewissensbisse loszuwerden und die Leiden seiner Seele abzutun, eine Pilgrimschaft nach dem heiligen Grabe tut. Jeder Fußtritt, der seine Sohlen auf ungebahntem Wege durchschneidet, ist ein Linderungstropfen der geängsteten Seele, und mit jeder ausgedauerten Tagereise legt sich das Herz um viele Bedrängnisse leichter nieder. - Und dürft ihr das Wahn nennen, ihr Wortkrämer auf euren Polstern ? - Wahn! - O Gott! du siehst meine Tränen! Musstest du, der du den Menschen arm genug erschufst, ihm auch Brüder zugeben, die ihm das bisschen Armut, das bisschen Vertrauen noch raubten, das er auf dich hat, auf dich, du Allliebender! Denn das Vertrauen zu einer heilenden Wurzel, zu den Tränen des Weinstockes, was ist es als Vertrauen zu dir, dass du in alles, was uns umgibt, Heil- und Linderungskraft gelegt hast, der wir so stündlich bedürfen? Vater, den ich nicht kenne! Vater, der sonst meine ganze Seele füllte und nun sein Angesicht von mir gewendet hat, rufe mich zu dir! Schweige nicht länger! Dein Schweigen wird diese dürstende Seele nicht aufhalten - Und würde ein Mensch, ein Vater, zürnen können, dem sein unvermutet rückkehrender Sohn um den Hals fiele und riefe: „Ich bin wieder da, mein Vater! Zürne nicht, dass ich die Wanderschaft abbreche, die ich nach deinem Willen länger aushalten sollte. Die Welt ist überall einerlei, auf Mühe und Arbeit Lohn und Freude; aber was soll mir das? Mir ist nur wohl, wo du bist, und vor deinem Angesichte will ich leiden und genießen."- Und du, lieber himmlischer Vater, solltest ihn von dir weisen ?

                     *

               

                        Werther begegnet Heinrich - Klausurlösung (Nadine)

 

Aufgabe 1

In dem Brief vom 30. November, der von Werther an seinen Freund Wilhelm geschrieben und dem Entwicklung- bzw. Briefroman Johann W. Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ (1774) entnommen wurde,  geht es um die Begegnung zwischen Werther und dem geistig verwirrten Heinrich, welcher über die unerwiderte Liebe zu Lotte den Verstand verloren hat.

Werther ist nachdenklich und geht deswegen (in einer einsamen, felsigen Landschaft) an einem (Gebirgs-) See entlang, um wieder seine Gedanken ordnen zu können. Die Natur erscheint ihm trist, passend zu seinen eigenen Gefühlen und kurz darauf entdeckt er einen Menschen, der „Kräuter zu suchen scheint“ (vgl. Z .6). Werther geht auf die traurig aussehende Gestalt zu, die von geringem Stand zu sein schein, und fragt den Fremden, was er dort mache. Der Mann antwortet, dass er Blumen suche, und Werther kommt dies merkwürdig vor, da es nicht die passende Jahreszeit dafür sei. Der Mann erzählt zudem, dass die Blumen für seine Geliebte bestimmt seien. Er wäre zudem gerne ein anderer Mensch, da er früher glücklich gewesen sei und nun nicht mehr (vgl. Z. 26ff). Direkt darauf kommt eine alte Frau hinzu, die die Mutter des Fremden ist, den sie Heinrich nennt. Sie bedauert ihr schweres Schicksal und gibt Werther Auskunft über den Zustand ihres Sohnes und dass er schon ein Jahr rasend in der Irrenanstalt verbracht habe. Werther fragt sie nach der Zeit, in der ihr Heinrich glücklich gewesen sei, und sie antwortet, dass er die Zeit im „Tollhaus“ meine“, wo er nichts von sich wusste“ (Z. 45). Daraufhin lässt Werther die beiden allein. – In dem restlichen Text sinniert Werther über die entstandenen Eindrücke. Er findet es nicht gerecht, dass die Menschen nicht glücklich sein können, ehe sie zu Verstand kommen, ihn aber (jenseits der Kinderzeit) auch gleich wieder verlieren. Auch beneidet er Heinrich, da dieser (in seinem geistig verwirrten Zustand) glücklich ist und nicht die schreckliche Wahrheit (seiner Lage) erkenne. Abschließend bitte er Gott um Beistand und dass er ihn nicht verstoßen möge. 1

In dem Text spricht ein personaler Ich-Erzähler (Werther); es handelt sich um einen Brief Werthers an Wilhelm. Wir bekommen somit einen Einblick in Werthers Gedanken und Empfindungen und der Text wird – ein Merkmal des Sturm und Drang – sehr emotional vermittelt. Dies ist auch an seiner Ausdrucksweise nachvollziehbar. Der Romanheld  benutzt häufig Ausrufe wie „Ich soll, ich soll nicht zu mir selbst kommen!“ (Z 21)  und schreibt sehr ungezwungen und spontan. Er wiederholt häufig Satzanfänge, was den Eindruck noch verstärkt, dass er direkt aufschreibt, woran er denkt. Seine Briefe sind frei und ohne jeglichen Formzwang geschrieben, was typisch für diese  literarische Epoche ist. Die Sprache ist zwar nicht modern, aber trotzdem gut zu verstehen. Der Autor Goethe verwendet viel direkte Rede bzw. Figurenrede; sonst aber, wenn er Werthers Gedanken zum Ausdruck bringt, sind die Sätze lang und verschachtelt. Dies zeigt Werthers innere Unruhe und dass er seine Gedanken nicht ordnen kann. 2

Die vielen Adjektive, die Werther benutzt, unterstreichen nochmals die Emotionalität des Briefes –  s. Z. 21 „ Ein wunderbares, zuckendes Lächeln (…)“ Der Mann, den Werther in diesem Brief schildert, war Schreiber bei Lottes Vater. Aber er hatte sich in sie verliebt und wurde daraufhin entlassen. Dies führte zu seinem Wahnsinn. Werther identifiziert sich mit dem verwirrten Heinrich, da auch er unter seiner unerwiderten Liebe leidet, beneidet ihn aber auch gleichzeitig, da Heinrich in dem geistig verwirrten Zustand trotzdem glücklich ist und Hoffnung hat. Werther hingegen hat keine Hoffnung mehr. Diese Emotion spiegelt sich auch in der Beschreibung der Natur wieder. Diese wurde am Anfang des Buches als paradiesisch und wunderbar beschrieben, aber dies hat sich hier geändert: Die Natur wirkt auf Werther trostloser und auch bedrohlich. „Alles war öde, ein nasskalter Abendwind blies vom Berge und die grauen Regenwolken zogen das Tal hinein“ (Z.4.f) Das Zitat verdeutlicht diese Projektion des inneren Seelenzustandes, dieser „Seelenlandschaft“ (Ad).  Die Natur wird als etwas Unangenehmes (s. „nasskalter Abendwind“) empfunden und ohne jegliche Freude („öde“).

In den vorangegangenen Briefen beschreibt Werther seine unerwiderte Liebe zu Lotte; er verzweifelt immer mehr daran. Sie ist sein ganzer Lebensinhalt und Werther ist vollkommen fixiert auf sie. Allerdings hat Lotte inzwischen geheiratet und in Werther kommen immer düstere Gedanken hoch, sogar Gedanken über den Selbstmord. 3

Werthers  verzweifelte Lage wird auch dadurch deutlich, dass er Gott um Beistand bittet. Gleichzeitig klagt er diesen aber auch an, weil der sich von ihm abgewendet habe. Damit hat der Romanheld keinen emotionalen Rückhalt mehr und scheitert. 

                *

Verbesserungsmöglichkeiten der guten Leistung:

1. Hier hätten Sie auch auf die Diskussion mit Albert verweisen können, der kein Verständnis zeigt für eine Legitimierbarkeit des Freitods. 

2.  Komplex konstruierte, verschachtelte Sätze erfordern doch einen geistig klaren Zustand. Scheint das nicht widersprüchlich? Sie denken wohl eher an die unkontrolliert leidenschaftlich vorgetragene Wort- und Satzmenge, an Werthers innerliche Erregbarkeit, die dann zu gefühlsbetontem Redefluss führt. 

3. Mit dem Selbstmord beschäftigt sich Goethes Romanheld nicht erst gegen Ende der unglücklichen Liebesgeschichte.                                                   

                                                                     Nadine Greve @ GBE Jg. 13 – 11/ 2007 – 2-std. (Ad)

 

Aufgabe 2  (Sebastian)

Walther, Held dieser Romanhandlung, machte sich also auf, um aus der Stadt, die ihn so einengte und deren Gesellschaftsordnung er deutlich ablehnte, herauszugehen und sich in dem kleinen Örtchen Wahlheim niederzulassen. Dabei ließ er zwar seine Mutter und seinen Freund Albert zurück, aber die Natur, der er dort viel näher war als in der Stadt, und die Einsamkeit, gepaart mit der paradiesischen Gegend, die dort im Mai zu sehen war, wärmte sein Herz in aller Fülle und ließ ihn alles Schlechte vergessen. Hier konnte er Er-Selbst sein, hier konnte er Inspiration sammeln und sich dem Homer und Ossian widmen. Er hielt sich demzufolge lieber in der Natur als in der Stadt auf. So bewunderte er auch den Garten des Grafen von M., der – völlig frei von menschlicher Gestaltung und formalen Zwängen – den Plan der Natur befolgte. Die Freiheit und Unbestimmtheit der Natur – das war, was ihm gefiel, und genauso stellte er sich in Gedanken die Gesellschaft vor. Die momentane Ordnung mochte er nicht; einen Gedanken an sie zu verschwenden war in seinen Augen falsch.                               

            In Werthers Idylle trat aber jetzt ein Wesen, das diese Idylle störte, was aber nicht nur negativ zu sehen war. Eine der lieblichsten Gestalten traf er an einem Brunnen, für die Geschwister Brot schneidend. So wie Werther von der Freiheit dieser Kinder fasziniert war, so auch von Lotte – so war der Name dieser in Werthes Augen lieblichsten Gestalt.

Diese Erlebnisse und Begegnungen brachten Werther sogar von seinen Büchern ab. Sein Herz brauste so sehr, dass Bücher nicht mehr nötig waren. Die Natur (und diese junge Frau) waren  das Größte für ihn.

                                                                Sebastian Petschull  © GBE Jg. 13 –  11/ 2007 – 2-std.  (Ad) 

 

> PDF - Begegnung

> Werther - Werkstatt

> Romantyp E