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  Lesen schadet den Augen

 

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    Sprache  als Thema  von Gedichten

     

    Johann Wolfgang Goethe (1749 – 1832)

     Gedichte sind gemalte Fensterscheiben!

    Sieht man vom Markt in die Kirche hinein,

    Da ist alles dunkel und düster;

    Und so sieht‘ s auch der Herr Philister:

    Der mag denn wohl verdrießlich sein

    Und lebenslang verdrießlich bleiben.

     

    Kommt aber nur einmal herein!

    Begrüßt die heilige Kapelle;

    Da ist’s auf einmal farbig helle,

    Geschicht‘ und Zierat glänzt in Schnelle,

    Bedeutend wirkt ein edler Schein;

    Dies wird euch Kindern Gottes taugen,

    Erbaut euch und ergetzt die Augen!

     

     

    Novalis (Friedrich von Hardenberg) (1772 - 1801)

    Wenn nicht mehr  Zahlen und Figuren

    Sind Schlüssel aller Kreaturen,

    Wenn die, so singen oder küssen,

    Mehr als die Tiefgelehrten wissen,

    Wenn sich die Welt ins freie Leben,

    Und in die Welt wird zurückbegeben,

    Wenn dann sich wieder Licht und Schatten

    Zu echter Klarheit werden gatten,

    Und man in Märchen und Gedichten

    Erkennt die ewgen Weltgeschichten,

    Dann fliegt vor einem geheimen Wort

    Das ganze verkehrte Wesen fort.

     

     

    Joseph von Eichendorff  (1788 – 1857)

     Wünschelrute

    Schläft ein Lied in allen Dingen,

    Die da träumen fort und fort,

    Und die Welt hebt an zu singen,

    Triffst du nur das Zauberwort.

                                                               (1835)

 

 

      Franz Grillparzer (1791 – 1872)

      Sprachenkampf

      Zu Äsops Zeiten sprachen die Tiere,

      Die Bildung der Menschen ward so die ihre,

      Da fiel ihnen  aber mit einmal ein,

      Die Stammesart sollte das Höchste sein.

       

      „Ich will wieder brummen“, sprach der Bär,

      Zu heulen war des Wolfs Begehr,

      „Mich lüstets zu blöken“, sagte das Schaf,

      Nur einer der bellt schien dem Hunde brav.

      Da wurden allmählich sie wieder Tiere

      Und ihre Bildung der Bestien ihre.

                                                                          (1849)

 

    Hugo von Hofmannsthal ( 1874 - 1929)

    Dichter sprechen:

    Nicht zu der Sonnen frühen Reise,

    Nicht wenn die Abendwolken landen,

    Euch Kindern, weder laut noch leise,

    Ja, kaum uns selber seis gestanden,

    Auf welch geheimnisvolle Weise

    Dem Leben wir den Traum entwanden

    Und ihn mit Weingewinden leise

    An unsres Gartens Brunnen banden.

                                 (1897)  

                                  *

 

        Max Herrmann-Neiße (1886 – 1941)

        Rechtfertigung des Dichters

         

        Ist es nicht eitel, jetzt noch nachzusinnen,

        wie sich die Dinge gut beschreiben lassen,

        Gedichte wieder kunstvoll zu beginnen,

        in eine Form Unsagbares zu fassen,

        wenn rings im schwersten Kampf die Welten wanken

        und furchtbar die Geschicke sich entscheiden,

        die aufgewühlten, blutenden Gedanken

        in wohlgewebte Worte einzukleiden?

         

        Ist es nicht Sünde, sich von alle dem Bösen

        und Bittren, diesem Wahn gewordnen Leben,

        sei’s auch für eine Weile nur, zu lösen

        und sich dem Spiel der Reime hinzugeben,

        von allem Feindlichen sich zu entfernen,

        abweisend in sein Werk sich einzuspinnen,

        hoch oben bei den überlegnen Sternen

        der Anteilnahme Pflichten zu entrinnen?

         

        Und schmerzt mich selbst mein menschliches Versagen

        und such ich meine Schwäche zu bezwingen,

        wird dennoch, wenn die andren Schlachten schlagen,

        die Gottheit mich auf meine Insel bringen:

        da ist die Luft erfüllt von holden Tönen,

        wird abseits sich von Fehden und Gefahren

        die Zauberkraft des Maßvollen und Schönen

        über die Sintflutzeit hinaus bewahren!

         

                                   *

              (geschr. 1939; veröffentlicht  03.03.1940 in der Basler „National-Zeitung“)

 

        Eva Zeller © (* 1923)

        Meine Rechtschreibreform

        DENKICHANDEUTSCHLAND

        wer hat solche Nacht-

        gedanken gevierteilt

        sie gehören zusammen

        mit gleicher Betonung

        auf allen fünf Silben

        ein Sprengsatz der

        tacheles redet und mich

        um den Schlaf bringt

         

        Manchen Versen sind

        Flügel gewachsen

        und auf und davon

        ÜBERALLENGIPFELN

        da spürest du kaum

        daß da einmal drei

        Worte gestanden haben

        auf der Holzwand

        in Ilsenburg

         

        INEINEMKÜHLENGRUNDE

        ach allen Alleinge-

        lassenen die an ge-

        brochenem Herzen beinahe

        sterben aus der Seele

        gesprochen sie pochen

        auf Ringe aus purem

        Gold doch wehe die

        springen entzwei dann

        würden die Liebenden

        lieber in blutige

        Schlachten ziehn

         

        Für mein Ohr bleibt auch

        ESISTEIN ROSENTSPRUNGEN

        ineinander verflochten

        allerschönstes aus der

        Konkursmasse Sprache das

        Dornen zum Blühen bringt

        wir haben es noch gesungen

        bevor wir mitten im kalten

        Winter lostrecken mussten

        der Atem fror vor unseren

        Mündern die Worte waren

        zu sehn und blieben ein

        Leben lang stehn

                      

    aus: Eva Zeller, Was mich betrifft. Gedichte und Balladen. Literarische Broschur Bd. 18

    Verlag Sankt Michaelsbund. München 2011, S. 113f. - Für die Abdruckerlaubnis vom 26. 08. 2011 der Autorin herzlich gedankt.

         

        Eva Zeller © (* 1923)

        Das Wörtlein

         

        Es soll auf unserm Erdenrund

        über dreitausend geschriebene

        und fast zweitausend nur

        gesprochene Sprachen geben

        Eine davon die Mutter-

        die Vater- die Unsersprache

        geschrieben gesprochen

        nicht zu vergessen gesungen

        darüberhinaus an

        verschiebbaren Perlen entlang

        geflüstert kaum daß man dabei

        die Lippen bewegt

        als habe man sich des alt-

        gewordenen Vokabulars zu schämen

        das sich nicht plaudern lässt

         

        Selbst dem geringsten

        unter den Worten

        das sich klein gemacht hat

        zum Wörtlein

        hört man seine Herkunft noch an

        Das kann fällen

        das Wörtlein

        den altbösen Feind

        Der will uns um

        unsere Sprache bringen

        die tonlos gemurmelte

        und uns gar verschlingen

        Wir können ein Lied davon singen

         

        aus: Eva Zeller, Das unverschämte Glück, Neue Gedichte Radius Verlag Stuttgart 2006, S. 19

     

      Dagmar Nick (* 1926)

      Wörter

      Wörter, wie ungewichtig

      seid ihr geworden, in den Schatten

      gestellt von Erinnerungen,

      Gedanken, die landen wie Vögel mit

      lichtgefächerten Schwingen,

      wortlos und buchstabenscheu.

      Gelegentlich kreuzen sie auch

      den Weg einer Montgolfiere

      und überleben unbeschadet

      das übererregte Feuer, die Seile,

      den Krach.

                      *

 

      Dagmar Nick (* 1926)

       Aphasie

      Die Fliehkraft der Worte,

      die ich für meine Besitztümer hielt.

       

      Von meinem Ansitz aus schaue

      ich ihnen nach, wie sie davonzwergeln

      in verschüttete Bodensätze, wo

      kein Schuß sie mehr aufscheucht,

      geschweige denn trifft, sehe

      die Lücken, die sie so unverschämt

      gleichgültig hinterlassen, versuche,

      versuche ein Muster darin

      zu erspähen, eine Silbenspur

      oder wenigstens ein zerscherbeltes

      Echo.

             *

    Anm.:

    Aphasie = (med.) Verlust des Sprechvermögens oder Sprachverständnisses;  (phil.os.)

                 Zurückhaltung in der Beurteilung unsicherer Dinge

                Beide Gedichte veröffentlicht unter  D.N. „Schattengespräche“ im Rimbaud Verlag 2008,

              Der Autorin herzlich gedankt für die  Abdruckerlaubnis,  22.02.2010

 

      Maximilian Zander (1929 - 2016)

      Vorübergehend geöffnet

       

      Komm herein

      ins Gedicht, geh die Zeilen entlang,

      schön langsam. Man rechnet hier

      mit deinem Sprachvermögen.

      Wenn du jetzt gleich nach links

      einschwenkst, kommt dir vielleicht

      ein Fasan entgegen

      oder Lenin, auf einem Lastwagen,

      wahrscheinlich nachts.

      Nun laß uns eine Weile

      vor diesem schönen WORT

      Platz nehmen. Sitzt da nicht

      eine Meise im T-Träger, zwitschert

      dreimal, und das Auge des Dichters

      blinzelt durchs O? Was ist das

      GEDICHT: ERKENNTNISFRAGMENT

      ODER WELTGEFÜHL?

      Mach dir selbst einen Vers drauf,

      ich muß in die Stadt. Ganz recht,

      von hier aus geht's direkt

      ZUM AUSGANG.

       

 

    Die in Kapitälchen gesetzten Partikeln stammen aus Texten von Kate Hamburger, Kurt Schwitters und

    Michael Krüger.                                           *

    aus:  Maximilian Zander, Antrobus’ Tagebuch. Gedichte. Edition YE Bd. 7,  Sistig /Eifel 2004  - 

    Dem Autor einen herzlichen Dank für die Abdruckerlaubnis, Mai 2010.

    Maximilian Zander verstarb am 21. 11. 2016, RIP.

 

 

        Günter Kunert (1929 - 2019)

        Poetologie letzter Hand

         

        Auf dem Grund der Gedichte

        ruht alles Unsagbare.

        An die Oberfläche gezwungen

        löst es sich auf

        in Vokabular.

         

                *

    (aus: Gottesgedichte. Ein Lesebuch zur deutschen Lyrik nach 1945. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Helmut Zwanger und Karl-Josef Kuschel. Tübingen 2011, S. 79, Verlag Klöpfer & Meyer)

    Dem Autor Günter Kunert ein sehr herzliches Dankeschön für seine rasche Antwort vom 12. 08. 2012 und sein Einverständnis mit dem  Abdruck hier.  -  Der Dichter verstarb am 21. 09. 2019. R.I.P.

 

        Peter Härtling  (1933 - 2017)

        Sätze vor dem Gedicht

         

        Ich rufe die Wörter

        zusammen,

        sie haben

        kein Fell, kein Gefieder,

        sie haben, wenn

        sie sich im Rudel drängen

        und auf mich warten,

        nur eine dünne Haut,

        die reißt und sie

        bloßstellt,

        sobald ich ungeduldig werde

        und sie nicht streichle

        mit meiner Stimme.

 

(aus: P. H., Die Mörsinger Pappel. Gedichte. Luchterhand Verlag Darmstadt und Neuwied 1987 S. 63)

                                 *

    Peter Härtling  (1933 - 2017)

    Die neuesten Botschaften krümmen sich auf der Fensterbank –

    wie böse Zungen, schwarzgeädert, rollen sie sich ein.

    Es könnten, vor dem Ersticken, lauter letzte Sätze werden:

    eine Kette verwüsteter Verse, vergessener Wörter.

    Ein Dichter schrieb mir auf die Stirn, es ist ein Leben her:

    „La tristesse rembourse“. Es könnte heißen: Depression zahlt sich aus.

    Ich warte, bis einer das ungeschriebene Buch

              auf die Fensterbank legt.

 

        aus: Peter Härtling, Fenstergedichte. Radius Verlag, Stuttgart 2007, S. 55

    Ich danke dem Autor ganz herzlich für die Abdruckerlaubnis; 09. 05. 2011)

 

 

        Albert von Schirnding (* 1935)

        Sprache

         

        Bleibt die andere

        schönere ältere

        Schwester

         

        Mit Botschaften

        stündlich

        kürzeren Atems

        schick ich sie

        hinter dir her

         

        Reime wie Strafzettel

        steckt sie dir

        hinter den Scheibenwischer

        Wortspiele wirft sie

        mit der Zeitung

        durch deine Tür

         

        Ich rufe Hilfe Du

        findest das

        ausdrucksstark

        Ich sage Hoffnung

        sage Verzweiflung Du

        bewunderst Metaphern

        Ich schreibe Tod Du

        nickst: Ein schönes

        Gedicht

             *

        aus: Albert von Schirnding: Übergabe. Achtzig Gedichte. Ebenhausen b. München 2005, S. 3

                       Langewiesche-Brandt KG

 

        Albert von Schirnding (* 1935)

        Dichterlesung

         

        Am Mikrophon

        der Lyriker

        Poeta doctus Ein Wort

        gibt das andere

        Gekonnte Verse

        zu Zyklen gebündelt

         

        Das Gedicht

        blieb draußen wo

        vor der Fensterwand

        der Juniwind mit dem Laub

        der Pappeln spielt

        Ein anderer Rhythmus eine

        andere Art von

        Wiederkehr: deine Hand

        in meinem Haar

                        *

          aus: A. von Schirnding, War ich da? Gedichte, Edition Toni Pongratz,Hauzenberg 2010, S. 26

    Dem Autor für die spontane Antwort vom 16. 02. 2012 und  sein großzügiges Einverständnis mit einer

    Gedichteauswahl für einen Abdruck hier meinen  ganz herzlichen Dank. (Ad)

 

      Jürgen Becker (* 1932)

      Vom Wandern der Gedanken übers Papier

      1

      anfangen mit nichts

      aber da sind doch, es gibt

      die Blitze und Bilder im Kopf

      die Erregung in Gedanken

      den Ausbruch der Träume

      das Land der Schmerzen und der Wut

      Häuser voll Trauer und andere

      mit Glanz oder eingerichtet im Glück

      die Unruhe zwischen uns

      Brücken der Zärtlichkeit

      Nester des Mißtrauens

      da sind, es gibt

      die Wörter und Stimmen

      anfangen mit etwas

       

      2

      eine Fläche, die leer ist

      in der Vorstellung etwa ein riesiges Schneefeld

      weiß und leer

      bis ein Schwarm krächzender Vögel

      über dem Feld kreist und niedergeht

      und rauschend wieder davonfliegt

      bis ein Zug grauer Figuren

      von den dunklen Rändern her kommt

      und über den Schnee zieht

      steht wartet und weiter zieht schweigend

      eine Fläche, die leer war

      ein Feld voller Spuren

      ein System, das von seiner Veränderung erzählt

      und die Erinnerung an die Ereignisse vorzeigt

      an die Vergänglichkeit der Ruhe

      die Möglichkeiten nach einem Frieden

       

      3

      erzähl mir, was weißt du

      ja ich erzähle so lange ich lebe

      aber die Stimme wandert und fliegt nicht

      bleibt im Zimmer im Haus

      vielleicht hört noch der Nachbar

      im offenen Fenster und versteht

      eine Geschichte aus der Umgebung

      die Stimme wird älter

      heiser und leise

      stirbt eines Tages

      und nichts mehr hörst du

      außer den Bäumen über dem Grab

      erzähl mir, was bleibt vom Erzählten

       

      4

      wohin mit den Wörtern

      pausenlos das Gesprochene verschwindet in der. Luft

      der Wind nimmt Grammatik und Syntax auf

      der Zug der Wolken verwischt

      zwischen Westen und Osten den Satzbau

      im Regen kommt wieder

      zurück das Geräusch vieler Sprachen

      der Hagel erinnert an die Rede im Zorn

      weiterhin bleibt der Schnee was er ist

      ein Bote aus den Gebirgen

      wohin mit den Wörtern und wo

      bleibt die Sammlung der Zeichen

      zum Wiederfinden, Wiedererkennen der Sprache

      zum Austausch der Sätze

      Fische und Vögel

      und alle Tiere fragen so nicht

 

      5

      weiterlebend

      mit den Vorräten der Erfahrung

      was dachten und was taten wir

      was war geschehen

      was gab es zu lernen

      nutzlos wäre die Stummheit der Geschichte

      ein folgenloses Geschäft

      ohne die Weitergabe der Schrift

      die Wiedergabe der Berichte

      bis jetzt ist lesbar geblieben

      die Fortsetzung des Möglichen

      des Unglücks und der Versprechungen

      des Unerreichten und der Wünsche

      so verliert das Vergangene

      seine Dunkelheit

      den unerklärbaren Schrecken

      die Rätsel vom Entstehen der Angst

      so leben die Hoffnungen weiter

       

      6

      andere Orte, andere Tage

      die Entfernungen zwischen dir und mir

      zwischen uns

      das Fremde und die Freundschaft

      das Vergebliche und das Erinnern

      ich schreibe dir auf

      was mir fehlt, was ich wünsche

      du liest

      was du kennst und was du nicht hast

      und was dich erwartet

      unterwegs trägst du mit dir

      den Brief, das Gedicht

      im Dunkel leuchtet weiß ein Blatt

      später ein Licht im Gedächtnis

       

      7

      früher die stummen Erzählungen

      Abdrücke im Gestein

      Zeichnungen an den Wänden

      Häufungen von Asche

      Anordnungen der Trümmer

      Architektur der Spuren und Reste

      als Vorarbeiter des Vergessens

      kam der Wind

      geduldig sprengte der Frost

      weg wusch der Regen die Epochen des Staubs

      zurück kam die Erde

      die Zukunft der Büsche und Bäume

      die Jahreszeiten brauchten nichts anderes

      ein Blühen ein Welken

      ein Zustand ohne die Kämpfe der Sprachen

       

      8

      benennbar sind die Zeiten geworden

      beschreibbar die Gegenden

      dort ein anderes Land

      hier eine vertraute Umgebung

      im Wechsel von Tälern und Hügeln

      zeigen kann ich dir

      die Reste von Heimat und Kindheit

      den Fortschritt der neuen Zerstörung

      die Möglichkeiten des Alterns

      lesbar sind alte und neue Namen

      die Namen verschwundener Dörfer

      ausgestorbener Familien

      stillgelegter Fabriken

      die Namen der Bäche und der Leute

      in alten Mühlen

      die Namen versprochener Zukunft

       

      9

      Zeilen über einem Wasserzeichen

      Wörter und Sätze

      Veränderungen auf weißen Flächen

      so setzen Gedanken die Wanderung fort

      prägen sich weiter Bestimmungen ein

      rettet sich das Gedächtnis

      treten Bilder hervor aus dem Dunkel

      blitzt Widerspruch auf

      bleibt erkennbar das Diktat der Träume

      das Entstehen der Wünsche

      wird die Unruhe weiter beweisbar

      verstehst du die Wirkung der Schrift

      lebst weiter und läßt hinter dir-täglich

      die Grenzen des Schweigens

       

                   *

      aus: Jürgen Becker, 1965 – 1980, Suhrkamp Taschenbuch Verlag  TB 690,  1981, S. 345 – 349 

      darin: Die gemachten Geräusche. Gedichte entstanden zwischen  1974 – 1980

       

      Jürgen Becker (* 1932)

      Nochmals

       

      Vorbereitungen für das, was sich hinzieht und hinzieht

      bis zu einem Start, der ganz lautlos erfolgen wird.

       

      Niemand merkt was. Es macht eben kein

      Geräusch, wenn Spuren entstehn auf einem Feld

      der unsichtbaren Entwürfe.

       

      Zuviel schon verraten. Sofort und später

      eine ewige Sucherei, und meistens wird etwas

      entdeckt, das Falsche.

       

      Falls Zweifel erlaubt sind. Oder ein Apparat

      mit Gedächtnis.

       

      Längst hat es aufgehört, und es hat sich

      das Gras aufgerichtet bis abends.

       

                          *

      aus: Jürgen Becker, Foxtrott im Erfurter Stadion. Suhrkamp Verlag Frankfurt 1993, S. 8

     Dem Autor und Büchner-Preisträger 2014  Jürgen Becker ein herzliches Dankeschön für seinen

     aufmunternden Brief vom 19. 06. 14 und die Genehmigung der Veröffentlichung der Gedichte auf

     meiner Web-Seite:

                 *

 

        Monika Taubitz © (* 1937)

        Kurzschrift

        Strohfeuer!

        Kurzschrift unserer Zeit!

        Mit Asche

        schreibst du

        den Tagesbericht.

          *

        Gegenschrift

         

               Monika Taubitz © (* 1937)

        Fahrschüler

        Ein altes Heft

        mit Vokabeln

        fiel aus dem Zug,

        blieb am Bahndamm

        zurück.

         

        Ein Rabe trug es

        ein Stückweit davon.

        Entledigte sich jedoch

        seiner Beute,

        die sich

        als unbrauchbar erwies.

         

        Lange noch

        lag das Heft

        verwittert

        zwischen den Gleisen,

        nutzlos geworden

        wie sie.

 

    aus: Monika Taubitz, Im Zug  - nebenbei, Gedichte von unterwegs.

    Dresden 2011, Neisse Verlag, S. 18

     

        Doris Runge (*1943)

        papierkörbe leeren

         

        briefkästen

        ordnung schaffen

        haare kämmen

        nägel schneiden

        plötzlich

         

        ein sphärenton

        ein singen

        im stahl

        und aufgewirbelter

        staub

         

        wie schwebend

        wie zuverlässig

        wie alltäglich

        er unter uns ist

               *  

        (aus: Doris Runge, du also. Gedichte, DVA München, 2003 S. 56)

        Der Autorin für die Abdruckerlaubnis vom 03. 04. 2017 ganz herzlichen Dank.

 

        Joachim Fuhrmann  ( * 1948)

        Begegnung mit Sprache

         

        1.   

        ei   ei   ei   ei

        oh oh oh oh

        eh eh eh eh

        ja wo isser denn

        du du du du

        ja   ja   ja   ja

        was macht denn

        unser schnutzi

        killekillekille

        oh

         

        2.  

        jetzt wolln  wir

        happa happa machn

        nun müssen wir

        bäuerchen machn

        jetzt wolln wir

        a a machn

        das is bä bä

        nun da da gehn

        und nun is nuch

         

        3.  

        tu das tu dies

        mach das mach dies

        laß das laß dies

        wie oft soll ich dir

        noch erklärn

        kannst du nich hörn

        willst wohl nich

        dann wolln wir mal

        eine andre sprache

        sprechn

          *

           

        Joachim Fuhrmann  ( * 1948)

        Ich schreibe ein Gedicht:

        Zwischen den Versen

        rufe ich die Auskunft an

        und setze Wasser auf

        für den Abwasch.

                  *

    aus:

    Trotzdem läuft alles, Texte Joachim Fuhrmann & Bilder Manfred Pixa     neue presse , Hamburg 6, 1975,

    S. 17 / 21 Dem Autor ein herzliches Dankeschön für die Abdruckerlaubnis,   16. 03. 2010  

                                        *

    Theo Breuer (* 1956)

    montage 7 – orpheuskraft

     

    das weite suchen

    dein gedicht mein augensee

    himmel + hölle

     

    klischees verbraten

    stecknadel im heuhaufen

    sinn eines lebens

     

    kavalier der welt

    der du nicht verloren bist

    ich besinge dich

                  *

     

    Theo Breuer (* 1956)

    montage 8  - der metaphernstammler

     

    wortschatz wächst dir zu –

    (ergriffensein beim schöpfen!)

    du weißt nicht woher?

     

    schmerzhieroglyphen

    (!glück + gut daß keiner weiß –

    denk: dein derbes herz!)

     

    mutterseelenallein.

    bekümmert wie franz kafka.

    hinüberfließangst. - - -

     

    wörternaturrein

    augenblickspurzelbäume

    gedichtsprach: leere

                   *

    frieren

          Das Herz im Baum,

          Ihr braucht es nur zu pflücken.

                                                    Paul Eluard

 

    himmel –

    ein widriges wort . . .

     

    egal – gedichte sind

    nicht der ort

     

    darüber zu

    disputieren

     

    (wer es

    des ungeachtet tut

     

    in wahnhaft schöpferischem

    übermut

     

    hat keine lyrik

    manieren)

     

    himmel + blau

    pauschal montieren - - -

     

    wörter sind

    wind in wolken . . .

     

 

    für Karl-Friedrich Hacker,

    ohne dessen edition bauwagen es  WÖRTER SIND WIND IN WOLKEN und die folgenden handgeschriebenen Künstlerbücher nicht gäbe

          aus: Theo Breuer, Land  Stadt   Flucht. Gedichte, Edition YE Sistig/ Eifel 2002

              Dem Autor für die Abdruckerlaubnis herzlichen Dank  -  Mai 2010.

 

       

      Alfred  Zoppelt (* 1954)

      Vollgas

       

      Alle Artisten, die jemals

      übers Seil der Sprache gingen,

      schauen mir über die Schulter,

      wenn ich die Schreibmaschine

      wie ein Lenkrad packe

      und mit Vollgas

      durch den Wald der Wörter fahre,

      Hals über Kopf

      zu den Schwänen der Poesie.

       

                 *

                  Dem Autor ein Dankeschön für seinen Beitrag; Wien Sept. 2010

 

                             kein copyright:

           Bertolt Brecht (1898 – 1956)

    Auf einen Chinesischen Teewurzellöwen

    (Die Schlechten fürchten deine Klaue)

     Schlechte Zeiten für Lyrik

    (Ich weiß doch: nur der Glückliche/  Ist beliebt. )

     

     Gottfried Benn (1886 – 1956)  

    Ein Wort (Ein Wort, ein Satz -: aus Chiffren steigen)

     

    Rose Ausländer ( 1901 - 1988  )

    Die Märchen (Hinter dem Himmel/ schlafen die Märchen) 

     

    Günter Eich (1907 – 1972)  

    Die Häherfeder (Ich bin, wo der Eichelhäher)

    Tage mit Hähern (Der Häher wirft mir/ die blaue Feder

                                                                                nicht zu)

    Hilde Domin (1909 - 2006)

     Das Gefieder der Sprache (streicheln)

    Der große Luftzug (Das Wort neben mir)

    Linguistik (Du musst mit dem Obstbaum reden)

    Losgelöst (treibt ein Wort)

    Lyrik (das Nichtwort)

     

    Karl Krolow (1915 - 1999)

    Rechtschreibung (Ohnehin kann dir/ da niemand helfe -)

    Schreiben (Papier, auf dem sich/ leichter Wind niederläßt)

    Worte ( Einfalt erfundener Worte)

     

    Hans Bender (1919 - 2015)  Verwunderung (Irgendetwas will in dir)

     

    Paul Celan (1920 – 1970)  

    Ein Dröhnen (: es ist die Wahrheit selbst)

    Mit wechselndem Schlüssel (schließt du das Haus auf)

    Sprachgitter (Augenrund zwischen den Stäben)

     

    Günter Kunert (* 1929)

    Eine Poetik (Das wahre Gedicht/  löscht sich selber aus)

     

    Ernst Jandl (1925 – 2000) fortschreitende räude

                                              (him hanfang war das wort hund das wort war bei)

                             ode auf N (lepn/nepl)

    Hans M. Enzensberger ( * 1929)

    Altes Medium (Was Sie vor Augen haben/ meine Damen und Herren)

    Horst Bienek (1930 –1990)  Worte (meine Fallschirme)

     

    Reiner Kunze (* 1933) Dichter im Exil (An ihren sohlen haftet)

                              Selbstgespräch für Andere (Nichts hat das gedicht gemein)

 

    Albert von Schirnding (* 1935)

    Sprache (Bleibt die andere)

    Zurück (Einen eigenen Ton finden)

               

    Rainer Malkowski (1939 – 2003) Selbstauskünfte (Viel gesprochen heute abend.)

 

    Peter Handke (* 1942)

    Die Besitzverhältnisse

    (Mit dem Wort ICH fangen schon die Schwierigkeiten an.)

     

    Axel Kutsch (* 1945) Wohlwollendes Gedicht (Hier spricht dein Gedicht)

                          Gang durch ein Gedicht (Treten Sie ein./ Genieren Sie sich  nicht.)

                                                   *

 

        Erich Adler  ©

        Antwort

                     Für Hilde Domin

        Manche der Tränen

        stürzen unvorbereitet

        ins Freie

        Manche Briefe

        werfen das Herz in die Luft

        und es kann atmen.

                                                         02.06.2004

         

 

        Erich Adler ©

        Meinem Ältesten

         

        Nicht zu verstehen

        sagst du

        sei

        was ich euch schreibe

         

        Ja ganz auf die Schnelle

        kommen mir auch meine Worte

        nicht zu Papier

        auf das junge

        weiße

        Blatt in jeglich

        schwer atmender

        Jahrszeit.

                                                                                05- 2010

 

        Erich Adler ©

        Gespräch über Gedichte

         

        Wir sitzen am Tisch

        schauen in den Garten auf

        die entblößten Ringe der gefällten

        Lärche

         

        Beim Blick in den Himmel

        ein Wort über Schweres und Leichtes

        aller Gedichte - so

        fährt der Wald am Horizont

        unter den Wolken entlang beleuchtet

        mit Sonnenrand

         

        Gedanken an Ortswechsel der Lebenden und Toten

        all das im Angesicht der schon gänzlich

        vom Feuer entzauberten

        Eiche.

                                 Für Melanie -                11/ 2013

              *

          Erich Adler

          Zweierlei Sichtweisen

          Um seine Augen mache

          der alte Dichter sich Sorgen

          nur noch verzerrt erscheine seit kurzem

          die Schrift

           

          Ungebrochen aber

          schauen grüne vier Zeilen mir unbekümmert

          ins  Herz.

                                                    In memoriam Hans Bender (+ 2015)

           

      erschienen in  der von Axel Kutsch herausgegebenen Gedichtsammlung Versnetze _neun 

             Verlag Ralf Liebe,  Weilerswist 2016  S, 185

 

                                                                          

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