“... Lesen schadet den Augen! ”

 

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Gedichtinterpretation – Hugo von Hofmannsthal (1874 -1929): Die Beiden (1896)

 

 

        I         1      Sie trug den Becher in der Hand

                   2     - Ihr Kinn und Mund glich seinem Rand -

                   3     So leicht und sicher war ihr Gang,

                   4     Kein Tropfen aus dem Becher sprang.

         

        II       1     So leicht und fest war seine Hand:

                   2     Er ritt auf einem jungen Pferde,

                   3     Und mit nachlässiger Gebärde

                   4     Erzwang er, daß es zitternd stand.

         

        III     1    Jedoch, wenn er aus ihrer Hand

                  2     Den leichten Becher nehmen sollte,

                  3     So war es beiden allzu schwer:

                  4     Denn beide bebten sie so sehr,

                  5     Daß keine Hand die andre fand

                  6     Und dunkler Wein am Boden Rollte.

 

 

In dem Gedicht „Die Beiden“ aus dem Jahre 1896 von Hugo von Hofmannsthal (1874 – 1929) geht es um zwei Personen, eine Frau und einen Mann, die durch die Anwesenheit bzw. Gegenwart des anderen nervös gemacht werden.

 

Die erste Strophe beschreibt, wie eine Frau leicht und sicher einen Becher auf gleicher Höhe mit ihrem Mund und ihrem Kinn trägt, ohne dabei etwas aus diesem Becher zu verschütten.

In der zweiten Strophe wird geschildert, wie ein Mann, der eine leichte und feste Hand besitzt, auf einem jungen Pferd reitet und dieses mit wenig werdender Gestikulation zum Stehen bringt.

Die dritte und letzte Strophe zeigt, dass es dem Mann nicht gelingt der Frau den Becher abzunehmen bzw. dass es ihr nicht gelingt ihm den Becher zu überreichen, da beide am Zittern sind, sodass der Inhalt des Bechers, Wein, verschüttet wird.

Nach meinem ersten Textverständnis soll dieses Gedicht aussagen, dass Sachen und Dinge, die einem normalerweise leicht fallen, in Gegenwart eines Menschen, für den man viel empfindet oder den man liebt, zu einer der schwersten Sachen werden können.

 

Betrachtet man die äußere Form des Gedichts, so kann man sagen, dass bei der Gedichtart ein Sonett vorliegt. Es besteht aus zwei Quartetten, zwei aus vier Versen bestehenden Strophen, und zwei Terzetten, zwei aus drei Versen bestehenden Strophen, die jedoch zu einer Strophe, die aus sechs Versen besteht, zusammengefasst sind.1

Bis auf den dritten Vers in der zweiten Strophe handelt es sich beim Metrum immer um den Jambus. Das bedeutet, es findet ein Wechsel von unbetonter und betonter Silbe statt. Die Verse bestehen jeweils aus acht oder neun Silben.

In der erste Strophe lässt sich ein Paarreim und in der zweiten Strophe ein umschließender Reim erkennen. Die dritte Strophe besteht aus einem Kreuzreim, der durch einen Paarreim unterbrochen wird.

 

Schaut man sich nun die innere Form des Gedichts an, so kann man zuerst einmal erkennen, dass dieses Gedicht in drei Strophen gegliedert ist und mit diesen Strophen auch der Inhalt in drei einzelne Sinnabschnitte unterteilt wird. So geht es in der ersten Strophe ausschließlich um die Frau, deren sicheres Auftreten beim Tragen eines vermutlich randvollen Bechers beschrieben wird, in der zweiten Strophe nur um den Mann, dessen Stärke dadurch verdeutlicht wird, dass er das Pferd, auf welchem er zuvor ritt, ohne große Anstrengungen zum Stehen bringt, und schließlich in der dritten Strophe fügen sich die Inhalte der ersten beiden Strophen zusammen und es geht um „die Beiden“, die durch die Gegenwart bzw. Anwesenheit des Anderen ihr sicheres Auftreten bzw. ihre Stärke verlieren und sich verunsichert benehmen.

Zusätzlich fällt auf, dass in diesem Gedicht das Wort „Hand“ mehrfach und vor allem in allen Strophen vorkommt. Dieses Wort verbindet die drei in ihren Inhalten unterschiedlichen Strophen miteinander und führt wie ein Faden durch das ganze Gedicht. Zudem wiederholt sich ein Vers aus der ersten Strophe in der zweiten Strophe mit fast gleichem Inhalt (Strophe I, 3 „So leicht und sicher war ihr Gang“, Strophe II, 1 „So leicht und fest war seine Hand“). Verallgemeinernd kann man sagen, dass zwischen der ersten und zweiten Strophe Parallelen herrschen bzw. die gleiche Bauweise der Strophen auffällt.

Zusätzlich kann man Enjambements in Strophe II zwischen Vers 3 und 4 und in Strophe III zwischen Vers 1 und 2 erkennen. Die jeweiligen Sinneinheiten enden nicht mit der Zeile, sondern gehen mit in die nächste über.

Auch kommen Personifikationen in diesem Gedicht vor („Tropfen … sprang“, „Hand … fand“, „Wein … rollte“). Es werden Dingen menschliche Eigenschaften zugeordnet.

 

Stellt man nun äußere und innere Form des Gedichts in einen Zusammenhang, kann man sehen wie Gestaltung und Inhalt zusammenwirken und die Aussage des Gedichts hervorbringen.

So ist nicht nur das äußere Erscheinungsbild des Gedichts in drei Strophen gegliedert und ähnelt einem Sonett, sondern auch der Inhalt. Es wird klar differenziert zwischen der Beschreibung der einzelnen Personen, dem sicheren Auftreten der Frau bzw. der Stärke und dem Durchsetzungsvermögen des Mannes, und der Beschreibung „der Beiden“ in Anwesenheit des Anderen, ihrer Unsicherheit, Nervosität und Ungeschicklichkeit.

Das überwiegend regelmäßige Metrum verstärkt vor allem in den ersten beiden Strophen mit welcher Leichtigkeit die beiden Personen ihre beschriebenen Tätigkeiten ausführen.

Durch den Parallelismus, der zwischen Strophe I und II besteht, wird verdeutlicht, dass die beiden beschriebenen Personen sich im Verhalten sehr ähneln und viele Gemeinsamkeiten besitzen.

Fasst man nun das zuvor Festgestellte zusammen, kann man sagen, dass die Interpretationshypothese bestätigt werden kann. Dieses Gedicht soll aussagen, dass Sachen und Dinge bzw. auch Tätigkeiten, die einem normalerweise leicht fallen, in Gegenwart eines Menschen, für den man viel empfindet oder den man eventuell liebt, zu einer der schwersten Sachen werden können.

 

Abschließend lässt sich hinzufügen, dass Hugo von Hofmannsthal nicht nur etwas in seinem Gedicht thematisiert bzw. etwas damit ausdrücken möchte, das Ende des 19. Jahrhunderts von Bedeutung war, sondern auch heute nicht an Aktualität verliert und somit nicht für den Leser abwegig ist oder keinen Bezug zur Gegenwart herstellt.

 

                                 Kerstin Rose ©  GBE Kl. 10 – 2006/ 2007 – (H. Abram)

 

  1 Hofmannsthals  Sonett findet man gelegentlich auch mit Leerzeile zwischen den Terzetten.

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