“... Lesen schadet den Augen! ”

 

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          Gottfried Keller  (1819 - 189O)

          Winternacht

           

          Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt,

          Still und blendend lag der weiße Schnee,

          Nicht ein Wölklein hing am Sternenzelt,

          Keine Welle schlug im starren See.

           

          Aus der Tiefe stieg der Seebaum auf,

          Bis sein Wipfel in dem Eis gefror;

          An den Ästen klomm die Nix herauf,

          Schaute durch das grüne Eis empor.

           

          Auf dem dünnen Glase stand ich da,

          Das die schwarze Tiefe von mir schied;

          Dicht ich unter meinen Füßen sah

          Ihre weiße Schönheit Glied für Glied.

           

          Mit ersticktem Jammer tastet' sie

          An der harten Decke her und hin.

          Ich vergess’ das dunkle Antlitz nie,

          Immer, immer liegt es mir im Sinn.

                     

Das GedichtWinternacht" von Gottfried Keller, der dies zwischen 1846 und 1847 geschrieben hat, beschreibt eine kalte, stille Winternacht, in der der Verfasser eine Nixe sieht, dessen Antlitz er nie vergessen wird.

Nach meinem ersten Textverständnis will Keller mit seinem Gedicht ausdrücken, dass, auch wenn tiefster Winter herrscht, immer unter irgendwelchen Schichten oder in einer verborgenen Natur, Leben vorhanden ist und somit immer neue Hoffnung aufkommen kann.

„Winternacht" ist in vier Strophen, mit jeweils vier Zeilen aufgeteilt. In der ersten Strophe “beschreibt” der Autor Gottfried Keller, wie es um und auf dem Wintersee aussieht Alles ist still, weiß vom Schnee und wolkenlos. Selbst der See schlägt keine Wellen. Wenn man diese Strophe, ohne vorher die anderen gelesen zu haben, liest, könnte man meinen, die Natur birgt nichts anderes mehr; doch schon in der zweiten Strophe bildet sich eine neue, wichtige Situation. Hier steigt aus der Tiefe des Sees ein Seebaum auf (Metapher), worauf eine Nixe die eine Märchenfigur ist, empor klettert. „Aus der Tiefe stieg der Seebaum auf* (Z.5), „An den Ästen klomm die Nix herauf" (Z.7). Es ist fraglich, ob der See auch schon in der ersten Strophe gefroren war. Hier heißt es, dass „keine Welle im starren See" schlug; wenn der See da schon gefroren wäre, wäre es unlogisch, da dann sowieso keine Wellen über die Eisschicht schlagen könnten. Beispiele für das Eis kann man ab der zweiten Strophe lesen, „...schaute durch das grüne Eis empor" (Z.8), „Auf dem dünnen Glase stand ich da" (Z.9). „An der harten Decke her und hin" (Z.14).

In der zweiten Strophe kommt Bewegung, allerdings nur in der Unterwelt des Sees, dazu. An der vereisten Seeoberfläche erstarrt die Bewegung. Die „Unterwasserwelt" ist ein anderer Kosmos, da es gewöhnlich weder Seebaum noch Nixen gibt. In der dritten Strophe kommt das lyrische Ich selbst ins Spiel. Vorher war davon noch keine Rede. „Auf dem dünnen Glase stand ich da, das die schwarze Tiefe von mir schied" (Z.9/10). Der Verfasser beobachtet von Strophe zwei an die Nixe, die verzweifelt nach oben will. Eigentlich denkt man doch, eine Nixe mag ihr Zuhause, das Wasser. Doch hier will sie nach oben, durch die glasig grüne Eisschicht. „Mit ersticktem Jammer tastet sie an der harten Decke her und hin" (Z.13/14). Nicht nur in diesem Gedicht spielt die verlockende Nymphe eine bedeutende Rolle. Sie ist ein häufig vorkommendes, literarisches Motiv Kellers. Sie taucht zum Beispiel auch in seinem Gedicht „Walpurgis" auf. Sie ist mit ihrem Leben im Wasser, das ungemütlich, kalt und dunkel ist, unzufrieden; es zieht sie nach oben, doch kommt sie nicht heraus. Es fallen Beschreibungen der Farben auf. Es gibt viele Kontraste: Die Nixe selbst ist weiß, ihr Antlitz, das der Verfasser niemals vergessen wird, schwarz wie der See. Die Nymphe ist hier eine Furcht einflößende, gespenstische Figur. „Ihre weiße Schönheit Glied für Glied" (Z.12), „Ich vergess’ das dunkle Antlitz nie" (Z.15). Verschieden sind auch die Auffassungen der Dicke der Eisschicht. Das lyrische Ich “beschreibt” diese als sehr dünn, sodass er sie leicht durchbohren könnte, doch die schwache Nixe kann die undurchdringliche Decke nicht durchbrechen. „Auf dem dünnen Glase stand ich da" (Z.9), „An der harten Decke her und hin" (Z.14). Man könnte meinen, das Gedicht spiele am Tag, wenn es nicht die Überschrift „Winternacht" und einen anderen Hinweis, das „Sternenzelt" (Z.3) geben würde.

Das Gedicht besteht in jeder Strophe aus dem Reimschema „a b a b" und alle Verse enden mit einer männlichen Kadenz. „An den Ästen klomm die Nix herauf, schaute durch das grüne Eis empor" (Z. 7/8). Das Versmaß ist immer regelmäßig und zwar ist dies ein Trochäus: betont- unbetont. Am Ende jeder Zeile fehlt eigentlich eine unbetonte Silbe, doch dann würde eine weibliche Kadenz entstehen. In Zeile eins und drei taucht eine kleine Unregelmäßigkeit im Versmaß auf. Hier fangen die Zeilen unbetont an und es folgen zwei betonte Silben. „Nicht ein Flügelschlag ging durch die Nacht*4 (Z. l), „Nicht ein Wölklein hing am Sternenzelt" (Z.3).

 

Nach all meinen Beispielen, Interpretationsansätzen und Zweifeln bestätige ich hiermit meine Interpretationshypothese.

Nach mehrmaligem Lesen und Nachdenken, gefiel mir das Wintergedicht immer besser, da man sich diese Natur/ die Situation des lyrischen Ichs und der Nixe zwischen der Eisschicht gut vorstellen kann. Gottfried Keller hat dies sprachlich sehr gut vermittelt.

                                                                                              Jula Thierauc ©, GBE 10 /  2006  Keller

 

Lehrerbemerkung:

Die formalen Beobachten am Ende der Deutung sollten besser an den Anfang gesetzt und als Startkapital deiner Interpretation genutzt werden.

                                                                                                                                    

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