“... Lesen schadet den Augen! ”

 

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              Gedichtvergleich in der Oberstufe – Thema >Romantik<

 

        Aufgabe:

    Interpretieren Sie Mörikes „Früh im Wagen“ nach Inhalt und Form. Vergleichen Sie „Früh im Wagen“ mit Eichendorffs „Sehnsucht“.

 

     

          Eduard Mörike ( 1804 – 1875)

           

          Früh im Wagen

           

          Es graut vom Morgenreif

          In Dämmerung das Feld,

          Da schon dein blasser Streif

          Den fernen Ost erhellt;

           

          Man sieht im Lichte bald

          Den Morgenstern vergehn,

          Und doch am Fichtenwald

          Den vollen Mond noch stehn:

           

          So ist mein scheuer Blick,

          Den schon die Ferne drängt,

          Noch in das Schmerzensglück

          Der Abendnacht versenkt.

           

          Dein blaues Auge steht,

          Ein dunkler See vor mir,

          Dein Kuss, dein Hauch umweht,

          Dein Flüstern mich noch hier.

           

          An deinem Hals begräbt

          Sich weinend mein Gesicht,

          Und Purpurschwärze webt

          Mir vor dem Auge dicht.

           

          Die Sonne kommt; - sie scheucht

          den Traum hinweg im Nu,

          Und von den Bergen streicht

          Ein Schauer auf mich zu.

             

 

Das Gedicht „Früh im Wagen“ von Eduard Mörike thematisiert den Abschied und das Verlassen eines lyrischen Ichs von einer geliebten Person. 

Der Sprecher befindet sich früh morgens auf einer Fahrt in einem Wagen, wobei er aufmerksam die Landschaft und die Verwandlung der Umgebung durch den Sonnenaufgang betrachtet. Dann vermittelt das lyrische Ich dem Leser, wie es die geliebte Person weinend zurückgelassen hat und wie schwer ihm der Abschied gefallen sei. Daraufhin geht die Sonne endgültig auf und vertreibt die vorhandenen Träume, woraufhin der Sprecher erschauert. Die erste bei mir hervorgerufene Wirkung des Gedichts besteht in dem Eindruck großer Hoffnungslosigkeit. Diese könnte der Dichter durch den geschilderten Ablauf, der sich vom Positiven immer mehr zum Negativen wandelt, noch verstärkt wollen. Die Absicht  Mörikes könnte darin bestehen, dass er den Blick für den Schmerz verlorener oder aufgegebener Träume öffnen möchte.

 

Das Gedicht „Früh im Wagen“ weist einen sehr regelmäßigen Aufbau auf. Jede der sechs Strophen besteht aus vier Versen, wodurch sich Einschnitte im Gedicht leicht erkennen lassen. sodass es auf den ersten Blick geordnet und durch die klare Strukturierung sogar etwas nüchtern wirkt. In allen Versen werden Jamben verwendet, wobei jeder Vers genau drei Hebungen hat und mit ein er männlichen Kadenz endet. Auftakte  oder Pausen kommen nicht vor. Die bereits erwähnten männlichen Kadenzen, mit denen jeder Vers endet, bilden einen kleinen Widerspruch zu dem angewandten Kreuzreim. Dieser würde eher durch einen Wechsel zwischen männlichen und weiblichen Kadenzen verdeutlicht werden.

Besonders auffällig ist die Stellung der Verben in diesem Gedicht. Sie bilden häufig die Enden der Strophen und werden auf diese Weise stärker betont. Dem Gedicht wird eine gewisse Aktivität verliehen, welche sich der Fahrt im Wagen des Sprechers und dem Zurücklegen eines Weges anpasst. Auch diese alltägliche Handlung würde von dem regelmäßigen Aufbau gestützt werden. Inhaltlich kann ich diese Regelmäßigkeit auch an der Wahl der Verben belegen.  Diese reimen sich durchgängig, wodurch ein starker Zusammenhalt verdeutlicht wird.

 

In der ersten Strophe wird die Dämmerung durch die ersten, noch schwachen Sonnenstrahlen, die durch das Adjektiv „blass“ (vgl. Z. 39) charakterisiert sind, vertrieben. Das erste Licht des Tages ist zwar noch schwach, dennoch symbolisiert es Hoffnung, da man genau weiß, dass es noch stärker werde wird. Die Sonnenstrahlen sind sozusagen wie ein Hoffnungsschimmer, der durch die Dunkelheit dringt und dadurch eine tröstende Wirkung hervorruft.  Er erhellt das Ziel, nämlich den „ fernen Ort“ (vgl. V. 7), sodass der Eindruck entsteht, dass das lyrische Ich in eine positive Zukunft schauen kann.

Die zweite Strophe zeigt weiterhin die Umgebung, in der der Sonnenaufgang fortschreitet und die vorangegangene Nacht verdrängt, was das Gefühl von Hoffnung und Zuversicht verstärkt. Dann jedoch führt der Dichter einen extremen Vergleich an. Er stellt den Sonnenaufgang und der Helligkeit dem dunklen Fichtenwald, über dem noch der Mond steht, gegenüber. Diese Szenerie ist ein Bild für das Zurückgelassene und die Hoffnung wird von Hoffnungslosigkeit und Trübsal abgelöst. Mörike setzt diesen Kontrast, um den Leser auf die kommende Beschreibung vorzubereiten und ihn in die richtige Stimmung zu versetzen. Auch die Formulierung, dass das lyrische  Ich „den vollen Mond noch stehn“ sieht ( V. 8), leitet bereits diese Stimmung ein.

      Die dritte Strophe klärt dann eindeutig, dass es sich um einen Aufbruch des Sprechers in ein neues Leben handelt. Vor diesem Aufbruch hat er jedoch Angst, was Mörike dadurch deutlich macht, dass er den Blick des lyrischen Ich als „scheu“ personifiziert. Dies erregt Mitleid beim Leser und er kann sich mit der Person des Textes identifizieren.

Durch die Formulierung Mörikes erkennt man deutlich, dass es sich  bei diesem Aufbruch um einen Zwang handelt und es dem Sprecher widerstrebt zu gehen. Auf diese Weise will der Dichter vielleicht ein Gefühl der Trauer hervorrufen und die Hoffnungslosigkeit wird so noch verstärkt.  Der Abschiednehmende erwähnt das in der Abschiedsnacht verspürte „Schmerzenglück“  V. 11), wobei der Begriff selbst noch einen Widerspruch enthält. Demnach verwendet Mörike dieses Paradoxon um deutlich zu machen, wie stark und zerreißend der Abschiedsschmerz sein muss,  dass der Sprecher aber gleichzeitig auch das Glücksgefühl verspürt, in jedem Moment noch mit der geliebten Person vereint zu sein. Dieser Widerspruch in der Stimmungslage bringt den Leser dazu, das für den lyrischen Sprecher  empfundene Mitgefühl noch zu verstärken.

     Die vierte Strophe verdeutlicht die Nähe, die während des Abschieds geherrscht hat. Das blaue Auge der verlassenen Person wird mit einem dunklen See verglichen, sodass die Tiefe und verlorene Unauslotbarkeit der Beziehung deutlich wird. Ein erneuter, starker Schub wird hervorgerufen und Sehnsucht erkennbar. Diese Sehnsucht des lyrischen Ich nach der Nähe der verlassenen Person wirkt verzweifelt und hoffnungslos. Das  Gedicht scheint inhaltlich mit jeder Strophe trauriger und negativer zu werden.  

     Die fünfte Strophe schließlich  gibt das eigene Verhalten des Sprechers beim Abschied wieder. Er weint und scheint kurz vor einem totalen Zusammenbruch. Man kann als Leser den Schmerz nur zu deutlich spüren, wenn sich hier in der Szene „Purpurschwärze“ (V.19) über die Augen legt. Das sprachliche Bild dient als Metapher für die Ohnmacht. Auch wählt der  Dichter genau diesen Begriff, da er starke Angstgefühle hervorruft;  man assoziiert damit unwillkürlich Binden, die Geiseln über die Augen gelegt werden. Das lyrische Ich ist somit gefangen in seinem Schmerz und hat keinen Blick mehr  für etwas Neues. Die beiden letzten Strophen reißen das lyrische Ich aus seinen Erinnerungen heraus, denn die Sonne geht nun vollständig auf und „scheucht den Traum hinweg“ (V. 21f), was eine Personifikation darstellt. Die Sonne erscheint hier aber nicht als Hoffnungsträger, sondern als etwas Böses; sie vertreibt die Träume des Sprechers. Die am Anfang bestehende positive Rolle hat Mörike hier durch eine Wendung ins Negative ersetzt, wodurch er auch das letzte Stück Hoffnung erlöschen lässt.  Dann streicht von den Bergen auf den Sprecher ein „Schauer“ zu, der sowohl die körperlich wie psychische Kälte symbolisiert, in der sich das Ich befindet. Der Autor lässt das Gedicht also sehr negativ enden und ein Gefühl wird erweckt, zusammen mit dem lyrischen Ich in der Kälte zu stehen. Man empfindet als Leser nur noch Mitleid und. Trauer.

Das Gedicht „Früh im Wagen“ ist meiner Meinung nach der Epoche der Romantik zuzuordnen, da ein sehr ausgeprägtes Sehnsuchtsmotiv – hier nach der verlassenen Person – vorliegt. Auch wird großer Wert auf die Darstellung der Natur (Dämmerung, Morgenstern, Fichtenwald, Mondnacht etc.) gelegt, die die Emotionen des Sprechers widerspiegelt, jedoch gleichzeitig verklärt. Weiterhin bleibt die Sehnsucht – ganz epochetypisch - unerfüllt.

 

Aufgabe 2:

 

          Joseph von Eichendorff ( 1788 – 1857)

          Sehnsucht

           

          Es schienen so golden die Sterne,

          Am Fenster ich einsam stand

          Und hörte aus weiter Ferne

          Ein Posthorn im stillen Land.

          Das Herz mir im Leibe entbrennte,

          Da hab ich mir heimlich gedacht:

          Ach, wer da mitreisen könnte

          In der prächtigen Sommernacht!

           

          Zwei junge Gesellen gingen

          Vorüber am Bergeshang,

          Ich hörte im Wandern sie singen

          Die stille Gegend entlang:

          Von schwindelnden Felsenschlüften,

          Wo die Wälder rauschen so sacht,

          Von Quellen, die von den Klüften

          Sich stürzen in die Waldesnacht.

           

          Sie sangen von Marmorbildern,

          Von Gärten, die überm Gestein

          In dämmernden Lauben verwildern,

          Palästen im Mondenschein,

          Wo die Mädchen am Fenster lauschen,

          Wann der Lauten Klang erwacht

          Und die Brunnen verschlafen rauschen

          In der prächtigen Sommernacht.

         

    

In Joseph von Eichendorffs Gedicht  „Sehnsucht“  steht das lyrische Ich am Fenster und schaut hinaus. Es erblickt zwei reisende Gesellen,  die ein Lied von der malerischen Umgebung singen, und der Zuhörende wünscht sich sogleich, auch mitreisen zu können.

 

Der Aufbau beider Gedichte unterscheidet sich deutlich. Während Mörike sein Gedicht in sechs Strophen zu je vier Versen staffelt, besteht „Sehnsucht“ nur aus drei Strophen, von denen aber jede acht Verse hat. Das Gedicht „Früh im Wagen“ hat einen sehr regelmäßigen Aufbau und besteht aus dreihebigen Jamben mit durchgehend männlicher Kadenz, Eichendorff dagegen verwendet einen dreihebigen Anapäst, bei dem sich weibliche und männliche Kadenzen abwechseln. Zwar stützen sich beide Dichter auf den Kreuzreim, jedoch wird dieser bei Eichendorff durch den Wechsel von männlichen und weiblichen Kadenzen noch besser unterstützt. Es erscheinen auch viele Auftakte und Pausen, die die Gefühle des lyrischen Ichs verdeutlichen.

Ein weiterer Unterschied liegt in der dargestellten Zeit, in welcher die Gedichte spielen. Die Reise des lyrischen Ichs von „Früh im Wagen“ findet, wie der Titel auch bereits sagt, früh morgens statt. Die Sonne geht gerade erst auf und der Tag beginnt. In Eichendorffs „Sehnsucht“ steht der lyrische Sprecher nachts  am Fenster und schaut hinaus. Da es sich um eine „prächtige Sommernacht“ handelt, kann er auch durchaus die vorbeiziehenden Gesellen erkennen. Mörike behandelt hauptsächlich den schweren Abschied des lyrischen Ichs und dessen Gefühle, wohingegen im Text „Sehnsucht“ das Hauptaugenmerk auf dem Gesang und den Erinnerungen bzw. Gedanken der Gesellen liegt. Von den eigenen Gefühlen des zuhörenden Betrachters erfährt man nur, dass er auch gerne mitreisen möchte, während im Gedicht Mörikes konkret von den Abschiedsgefühlen des lyrischen Ichs die Rede ist. Gemeinsamkeiten lassen sich in den beiden Gedichten aber durchaus auch feststellen. Besonders auffallend ist, dass beide Gedichte der Epoche Romantik angehören und somit von daher  Ähnlichkeiten bestehen. Die auffälligste Ähnlichkeit liegt in dem Motiv der Sehnsucht, welches gut erkennbar vertreten ist. Allerdings besteht hier Sehnsucht nach unterschiedlichen Dingen. So wünscht sich das lyrische Ich in „Früh im Wagen“ die Rückkehr zu der geliebten Person und will diese Nähe wieder empfinden. Es wünscht sich also etwas Bekanntes zurück. Das lyrische Ich in „Sehnsucht“ dagegen würde gerne eine weite Reise unternehmen und  ersehnt somit etwas vollkommen Neues. Es wird sozusagen von der Ferne angezogen, während der Sprecher bei Mörike von genau dieser Ferne abgeschreckt wird und sich eher davor fürchtet.

Ein weiters Motiv der Romantik in den Texten ist die Naturschilderung und eine teils verklärte Sichtweise der Welt. Die Natur wird in beiden Gedichten anschaulich ins Bild gebracht und es werden sowohl bei Mörike als auch bei Eichendorff zahlreiche Personifikationen verwendet, um die Darstellung und die Bedeutung der Natur noch weiter herauszustellen.

Eine auffällige Gemeinsamkeit liegt in der Wahl des lyrischen Ichs. In beiden Gedichten ist es nicht konkret bestimmbar, ob es sich um  einen männlichen oder weiblichen Sprecher handelt, aber auch in keinem der Gedichte ist eine Spezifizierung des Geschlechts von besonderer Notwendigkeit.

Die Titel unterscheiden sich deutlich von einander. Zwar wird mit beiden Gedicht-Titeln ein Zustand ausgedrückt, in dem sich der lyrische Sprecher befindet. „Früh im Wagen“ bezieht sich auf einen körperlichen Zustand: Man erfährt, dass das lyrische Ich in einem Wagen zu einer bestimmten Uhrzeit unterwegs ist. Nur mit dem Worten „Schmerzensglück“ (V.11), „weinend“ (V. 18) und „Schauer“ (V.24) wird angedeutet, wie es um seine Gefühle steht. 

Der Titel „Sehnsucht“  dagegen drückt einen seelischen Gesamtzustand aus, ein unbestimmtes Gefühl; man erfährt nichts Genaueres über die Hintergründe und Motive der Sehnsucht, die äußeren Umstände, in denen sich das lyrische Ich als einsamer Zuhörer am Fenster aufhält.

 

Insgesamt betrachtet weisen beide Gedichte, Eduard Mörikes „Früh im Wagen“  und „Sehnsucht“ des Romantikers Eichendorff, zwar durchaus Gemeinsamkeiten auf, unterschieden sich jedoch zugleich in vielerlei Hinsicht.

                                                                   Alexandra Böss ©   GBE Jg. 12/ 2008   (Hoeppe)

 

Das Gedicht Mörikes ist vollständig erfasst. Ausgezeichnet!  Im Gedicht Eichendorffs  stellen Sie die zentralen Aspekte klar und deutlich heraus. Gut gemacht!

                                                                            14 Pkt

                                      

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