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  Lesen schadet den Augen

 

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                        Christian Wernicke (1661 – 17125)

        Überschrifte oder Epigrammata,

        In kurzen Satyren

        Kurtzen Lob-Reden und

        Kurtzen Sitten-Lehren

        bestehend.

        Amsterdam, Anno 1697

 

 

An den Leser

Wo mancher Rosenstrauch von dir wird hier verspüret,

den ein gespitzter Dorn mehr als die Rosen zieret,

so denke, dass man hier, was lieblich riechet nicht

so hoch bei weitem schätzt, als was empfindlich sticht.

          *

 

Torheit der Liebe

Man liebt ich weiß nicht was, man folgt ich weiß nicht wem,

wir spieln mit Feur und sind ein Spott der eignen Triebe.

Es ist zwar angenehm, doch töricht erste Liebe,

ja weil sie töricht ist, drum ist sie angenehm.

        *

Ein Neuvermählter

Als einen, der sich nur den Tag zuvor vermählt

(mit einer, welcher nichts an Schein und Tugend fehlt).

des Morgens auf dem Markt zwei seiner Freunde fanden:

„Was habt Ihr“, fragten sie, „so frühe doch zu tun?“

„Nichts“, sagt er. „Ich bin aufgestanden,

um mich ein wenig auszuruhn.“

        *

Über gewisse Gedichte

Der Abschnitt? Gut. Der Vers? Fließt voll. Der Reim? Geschickt.

Die Wort? In Ordnung. Nichts als der Verstand verrückt.

            *

 

Blumenreiche Gedichte

Man find, wenn man mit Fleiß die Rosen und Narzissen,

die unsre deutschen Vers anfüllen oder schließen,

mit dem Verstand und Sinn des Dichters überlegt,

dass ein unfruchtbar Land die meisten Blumen trägt.

            *

 

Auf ein gewisses Sonett

Es schreibt Pirecles ein Sonett,

in welchem der Verstand in steter Irre geht,

in welchem nach der letzten Zeile

die dreizehn  ersteren wie in ihr Wirtshaus eilen.

Denn ist gleich weder falsch, was vorhergeht, noch wahr,

so ist der Endspruch dennoch klar:

Er schließt durch ein grob Wort sein dunkeles Gedichte

Und spritzt die Feder aus, dem Leser in s Gesichte.

          *

 

Auf das Wörterspiel

Dass keine schlechten Wort ein Pegnitzschäfer 1 spricht;   

dass er die Freud und Lust der Sinnen Sonne nennet,

und für ein Stirngestirn er Phillis Aug erkennet,

verwundert mich im mindsten nicht;

denn, wenn an diesem fruchtbarn Ort,

wo schnatternd alle Gäns in Schwäne sich verkehren,

Parnassus 2 schwanger ist, so pflegt er zu gebären

statt einer Maus ein Zwillingswort 3.                            

 

    Anm.:

    1 Pegnesischer Blumenorden: barocke Literatur- und Sprachgesellschaft

    2 Parnass: Gebirge in Griechenland und Sitz der Musen

    3 Laus? Graus?

        *

 

Reime dich oder ich fresse dich

Wenig Kriegsvolk, große Wälle,

wenig Vieh und große Ställe,

große Teich und keine Fisch,

Federn und kein Flederwisch;

viele Wort und wenig Speise,

wenig Geld auf langer Reise,

schöne Beutel ohne Gold,

große Titel ohne Sold,

schlechte Koch und lange Messer,

schlechter Wein und bunte Fässer,

lange Nächte sonder Schlaf,

viel Gesetze sonder Straf,

franzsches Fußvolk ohne Schweizer,

ohne Pfeif ein Vogelbeizer,

ein Quacksalber ohne Narr,

eine Quarr und keine Pfarr,

viele Schätz und kein Vergnügen,

Alchimisten sonder Lügen,

eine Leuchte sonder Kerz

und ein Stutzbart ohne Herz,

eine Sonnuhr ohne Weiser,                               ( = Zeiger)

[Postels] Singspiel ohne Keiser:                                (Apostel-Singspiel)

eben so viel sind hier nütz

zwanzig Verse ohne Witz.

        *

 

Schiffahrt des Lebens

Wir irren auf der See der Welt,

weil eine Flut die andre schwellt;

kein Vorgebirg erscheint zur Rechten noch zur Linken.

Wir sind der Wellen Gaukelspiel,

Süd, Ost, Nord, West gilt uns gleich viel,

weil wir den Hafen nur erreichen, wenn wir sinken.

          *

 

Und alle Gräber werden bewegt werden

Es wird die Wiege zwar, doch nicht das Grab bewegt,

in das man unsres Leibs entkernte Schale legt;

doch wenn der Lebensfürst erscheinen wird, und wenn

die donnernde Posaun erschallen wird auf Erden,

dann wird das Grab bewegt, und unser Grab wird denn

der Neugebornen Wiege werden.

        *

 

Auf die Torheit der Welt

Aus Ehrgeiz, Geiz, und viel zu wissen

gehn wir nach Rom, Wien und Paris,

nach Alcair, Algier und Cadiz,

nach Leipzig, Königsberg und Gießen;

wir gehn ins Feld als Oberste,

an fremde Hof als Abgesandte,

aufs Rathaus als des Rats Verwandte,

als Flaggenführer in die See;

wir gehn, verschwendend unsre Stunden,

mit Brüdern in ein Saufgelag,

mit Schwestern in ihr Schlafgemach,

und ins Gehege mit den Hunden;

wir gehn, um niemals still zu stehn,

und kitzeln uns mit stetem Wandern,

wir gehn von einem Ort zum ändern

und wolln doch in uns selbst nicht gehn.

        *

 

Gedanken zur Abendzeit bei Licht

Licht, das mir mein Papier erleuchtet als den Sinn,

ich werd an dir, dass ich wie du auch abnehm, inn,      

so still und unvermerkt, obgleich so sehr geschwinde,

dass ich den Abgang nur nach dem Verlust empfinde.

Ich schreib, indem du brennst, und sorg, indem ich schreib,

dass ich bei einer Flamm als meinem Vorbild bleib,

dass ich durch Sinnlichkeit nicht den Verstand verstelle,

so schreibe, wie du scheinst, so spitzig, doch so helle,

und dass, weil meine Tag als wie ein Dunst verfliehn,

ich so wie du, mich selbst verzehrend, ändern dien.

           *

 

Gedanken  in der Dämmerung

Mein Leben neigt sich mit dem Tage,

in dem die dunkle Nacht, so wie der Tod anbricht;

noch ist es Dämmerung, noch liegt auf gleicher Waage

das Leben und der Tod, wie Finsternis und Licht.

Doch ehe, was ich vorgenommen,

zu seinem Endzweck ist gekommen;

eh ich, was ich jetzt schreibe, schließ,

so stört mich dort der Tod, und hier die Finsternis.

             *

 

Auf die unnützen Klagen über die jetzigen Zeiten

Man klagt, dass alte Lieb und Treue sei verloren,

dass aller Segen sich verkehrt in Fluch;

allein, wenn ich die Zeit, die vorhergeht, durchsucht,

so dank ich Gott, dass ich in dieser bin geboren.

                      *

 

Auf die Verwunderer

Mehr wett ich nicht als hundert Taler,

dass der ein ausgemachter Prahler,

der alles, was er sieht, veracht;

doch leg ich tausend gegen hundert,

dass der nicht den Kompass erdacht,

der über alles sich verwundert.

        *

 

Claudite iam rivos etc. 1

Schließt eure klaren Bach, ihr Musen, es ist Zeit,

in Deutschland find ich euch von keiner Nutzbarkeit.

Hätt ich gelernt, wie man im Felde sich läßt schlagen,

so hätt ich schon vielleicht zwei Wächter vor der Tür,

und hätt ich bunte Schnür auf meinem Rock getragen,

so ging mir auch vielleicht anitzt kein Staatsrat für.

Hätt ich durch Schätzungen gelernt das Volk zu drücken,

so trüg ich auch vielleicht schon einen Ritterband,

und wüßt ich leckerhaft die Tafel anzuschicken,

so hätt ich manchen Sitz zu einem Unterpfand.

Es muß, wer etwas hier gedenket zu erwischen,

statt eurem klaren Bach in trübem Wasser fischen.

 

   *

Anm.:

1  Vergil-Zitat:  Bucolica 3111  “ . . .  pueri; sat prata biberunt.

„Schließt die Kanäle jetzt, Knechte; genug schon haben die Wiesen getrunken.“

                   (Gemeint: Genug gesungen; es reicht jetzt!)

 

 

Epigramm:

Ein sprachlich kurz und prägnant gefasster, poetisch geformter Gedanke, ursprünglich als  Schrift auf (Grab-) Steinen anzutreffen.

             Moderne Version zum Ableben eines Radfahrers, etwa so:

      Hier liegt er gut,  er liegt nicht schlecht. Ja -

      er pochte auf sein Vorfahrtsrecht. 

                                             *

 

Den Hinweis auf den Verfasser Christian Wernicke und seine Gedichte verdanke ich Hans Georg Schwark, Köln. März 2010

 

 

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