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  Lesen schadet den Augen

 

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                 Romanische Gedichtformen -  Italien:

 

            1. Madrigal

ursprünglich eine musikalische Bezeichnung  für nicht sakrale Musikstücke – der Begriff leitet sich wohl von „madriale“ = einfach, ländlich  ab - wurde das Wort im 14./15. Jahrhundert zur außermusikalischen Bezeichnung einer literarischen Gedichtformen; anfangs als Idealtyp: 

                                           abb  cdd  ee  ff

kurzes Gedicht aus zwei oder drei Terzetten von Elfsilbern mit ein bis zwei Reimpaaren am Schluss.  Gattungsprägend für das Madrigal als Gedichtform sind (Liebes-) Gedichte des  italienische Renaissance-Dichters Francesco  Petrarca     (1304 – 1375).

In der Weiterentwicklung des Madrigals wurden die idealtypischen Formzwänge fallen gelassen und  dieser Gedichttyp zum  “Inbegriff der metrisch freien Form“     (Ivo Braak).

Die  Praxis:

      Joseph von Eichendorff ( 1788 – 1857)

      Madrigal

       

      O Strom auf morgenroten Matten!

      Rubin, smaragden deine Wellen,

      Dann in des blauen Mittags schwülen Schatten,

      Rauschend in Abglanz versunken,

      Bis du der Nächte Licht getrunken,

      So muss mein Leben rastlos quellen,

      Sich selber lauschend oft das sel’ge Herzen,

      O Liebe süß, o Lust im Schmerze!

                          *

O Stróm auf mórgenróten Mátten!                                a   4-heb. Jambus,   9-silb

Rubín, smarágden deíne Wéllen,                                      b   4-heb. Jambus,   9-silb

Dann ín des blaúen Míttags schwü´len Schátten,          a   5-heb. Jambus,  11-silb

Raúschend in Ábglanz versúnken,                                    c  2 Dakt. 1 Troch.  8-silb

Bis dú der Nä´chte Lícht getrúnken,                               c   4-heb. Jambus,   9-silb

So múss mein Lében rástlos quéllen,                                b   4-heb. Jambus ,  9-silb

Sich sélber laúschend óft das sél’ge Hérzen,                 d   5-heb. Jambus , 11-silb

O Líebe süß, o Lúst im Schmérze!                                     d   4-heb. Jambus ,  9-silb

 

          2. Ritornell

Wort-Herkunft vom italienischen  ritornello; ritornare: wiederkehren

Kurzer Dreizeiler mit Epigramm * - Charakter:  a - b - a  Der erste Vers ist verkürzt, um sich als Sonderform von der Terzine zu unterscheiden.

                               

Theodor Storm  (1817 – 1888)

Frauenritornelle

 

Blühende Myrthe –

Ich hoffte süße Frucht von dir zu pflücken;

Die Blüte fiel; nun seh ich, dass ich irrte.

 

Schnell welkende Winde –

Die Spur von meinen Kinderfüßen sucht’ ich

An eurem Zaun, doch konnt ich sie nicht finden.

 

Muskathyazinthe –

Ihr blütet einst in Urgroßmutters Garten;

Das war ein Platz, weltfern, weit, weit dahinten.

 

Dunkle Zypressen –

Die Welt ist gar zu lustig;

Es wird doch alles vergessen.

 

              

 

                 *   Sinnspruch/ Epigramm:

      sprachlich kurz gefasster Gedanke mit Pointe:

 

      Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781)

      Die Sinngedichte über sich selbst

      Weiß uns der Leser auch für unsre Kürze Dank?

      Wohl kaum. Denn Kürze ward durch Vielheit, leider, lang.

       

      Abschied an den Leser

      Wenn du von allem dem, was diese Blätter füllt,

      Mein Leser, nichts des Dankes wert gefunden:

      So sei mir wenigstens für das verbunden,

      Was ich zurückbehielt.

          *

 

                   Christian Wernicke (1661 – 17125)

      Auf ein gewisses Sonett

      Es schreibt Pirecles ein Sonett,

      in welchem der Verstand in steter Irre geht,

      in welchem nach der letzten Zeile

      die dreizehn  ersteren wie in ihr Wirtshaus eilen.

      Denn ist gleich weder falsch, was vorhergeht, noch wahr,

      so ist der Endspruch dennoch klar:

      Er schließt durch ein grob Wort sein dunkeles Gedichte

      Und spritzt die Feder aus, dem Leser in s Gesichte.

 

                                 *

            3. Sestine

             

Gedichtform: sechs sechszeilige Strophen und eine dreizeilige Schluss-Strophe; das Reimschema der Strophen jeweils :   a  b  c  a  b  c   wird in festliegender, etwas komplizierter Reihenfolge mit den identischen Reimwörtern der ersten Strophe wiederholt.

          a1 - b2 - c3 - a4 - b5 - c6

          c6 - a1 – b5 - b2 – a4 – c3

          c3 -c6 – a4  - a1 – b2 – b5

          b5 – c3 -b2 – c6 – a1 –  a4

          a4 – b5 –a1 –  c3 –c6 –  b2

          b2 –a4 – c6 – b5 –c3 –  a1

          a1 + b2  - a4 + c3  -  b5 + c6

 

       

Heinrich Mühlpfort  (!639 – 1681)

Sechstinne.

Wettstreit der haare / äugen / wangen / lippen / halß und brüste.

 

Haare.

WEr sagt / daß unser rühm nicht göldne fessei schencket /

Wenn sie ein linder west um beyde brüste schwencket /

Entkerckert / frey und loß? hier wird ein geist umschräncket

Mit steter dienstbarkeit / der vor sich weggeiencket

Von band und ketten hat. Ein ewig nectar träncket

Der haare liebes-reitz / der nur auff lust gedencket.

 

Augen.

WO unser flammen quell nicht heisse strahlen schencket /.

Und den entbrandten blitz in hertz und seele schwencket /

So wird kein sterblich mensch mit huld und gunst umschräncket /

Hat unser leitstern nicht der liebe glut gelencket /

So wird sie gantz und gar in thränen-fluth erträncket;

Wer ist der jehmahls liebt / und unser nicht gedencket?

 

Wangen.

UNs hat Cupido glut / die rose blut geschencket /

Die lilje schnee / der sich um beyde zirckel schwencket /

Hier stehet helffenbein mit purpur rings umschräncket /

Und manch verliebter mund steht bloß auff uns gelencket /

Wen nicht die liljen-milch und rosen-öle träncket /

Der ist ein marmelstein / der nie an lust gedencket.

 

Lippen.

DEn köcher voller pfeil hat Venus uns geschencket /

Und ist es Wunders werth / daß unsre glut sich schwencket

Biß an das sternen-dach? Hier liegt ein brand versencket /

Der ewig zunder gibt / der mit rubin umschräncket /

Die feuchte süssigkeit / wenn mund am munde hencket /

Und die vergnügte seel mit zimmet-säfften träncket.

 

Halß.

SEht meine perlen an / die Venus selbst geträncket

Jn ihrem liebes-schoß: Seht was sie mir geschencket /

Als um der mutter halß Cupido sich geschwencket /

Und seine süsse pein ins helffenbein versencket /

Hier lieget schnee und glut im gleichen kreyß geschwencket /

JA bin der thurm / an dem der liebe rüstzeug hencket.

 

Brüste.

DJß schwesterliche paar / das voll von flammen hencket /

Von aussen vieler hertz mit liebes-öle träncket /

Jnwendig aber feur als wie ein Aetna schencket /

Da doch das schnee-gebürg sich von dem athem schwencket /

Und wieder von dem west der seuffzer niedersencket /

Hält alle lust und lieb in seinem platz verschräncket.

 

Nachklang der Sechstinne.

DEr haare schönes gold / der äugen lichter brand /

Der wangen paradieß / der lippen himmel-wein /

Hat mit des halses zier / ohn allen zwang / bekannt /

Daß auff den brüsten soll der liebe ruhstatt seyn.

 

             *

                4. Sonett   

         

14-zeiliges Gedicht, jambisch, Reimform: Quartette und Terzette, je nach Typ;

                             d i e   Form des Barockgedichts  schlechthin:

 

 4 a)   Petrarca-Typ (Italien): abab/ abab/ cdc/ dcd    oder     cde/ cde

                              alternativ:     abba/ abba/ cdc/ dcd   oder      cde/ cde

 

Heinrich Mühlpfort  (!639 – 1681)

Als Herr - - - - aus den 6ten in den 4ten Ordinem

als SchuI-Collega gesetzet wurde.

Sonnet.

 

TRiumph / mein A. B. C.! ich bin nunmehr gerücket!

     Ach allerliebster schätz / nun wird es besser gehn;  

     Es wird den cedern gleich ietzt deine wohnstatt stehn / 

Nachdem der himmel mich so freundlich angeblicket. 

Jch sehe schon im geist / in freuden schon entzücket / 

     Wie die frau Jlse dich im paaren wird erhöhn: 

     Wie die frau Cantorin / und war sie noch so schön / 

Wird zwey paar hinter dich; ach wenn! ach lust! geschicket. 

     Dir / Priscian / sey danck / so lang ich dancken kan /

     Daß ich ein schulen-licht in solchem glantz bin worden. 

Schaut mich verwundernde / Syntax-verwandte / an / 

Wie aus dem sechsten ich spring in den vierten orden.  

     Frau / kämm ins künfitige mir fleißig die parüque /  

     Es heist mich sauber gehn mein blühendes gelücke. 

                                                                                                (variierts Sextett)

              *

    August von Platen   (1796—1835)

    Sonett

 

    Wer wusste je das Leben recht zu fassen, 

    Wer hat die Hälfte nicht davon verloren  

    Im Traum, im Fieber, im Gespräch mit Toren, 

    In Liebesqual, im leeren Zeitverprassen?

 

    Ja, der sogar, der ruhig und gelassen, 

    Mit dem Bewusstsein, was er soll, geboren,

    Frühzeitig einen Lebensgang erkoren, 

    Muss vor des Lebens Widerspruch erblassen. 

 

    Denn jeder hofft doch, dass das Glück ihm lache,

    Allein das Glück, wenns wirklich kommt, ertragen,

    Ist keines Menschen, wäre Gottes Sache. 

 

    Auch kommt es nie, wir wünschen bloß und wagen: 

    Dem Schläfer fällt es nimmermehr vom Dache,

    Und auch der Läufer wird es nicht erjagen.

                                                                                                                                    

                      4 b) Shakespeare-Typ (England)

    drei alternierend reimende Quartette, ein Reimpaar  abab/ cdcd/ efef/ gg

William Shakespeare  (1564 – 1616) 

Sonett CXVI

 

Let me not to the marriage of true minds

Admit impediments: love is not love

Which alters when it alteration finds,

Or bends with the remover to remove.

 

Oh no! it is an ever-fixèd mark

That looks on tempests and is never shaken;

It is the star to every wandering bark,

Whose worth's unknown although his height be taken.

 

Love's not Time's fool, though rosy lips and cheeks

Within his bending sickle's compass come;

Love alters not with his brief hours and weeks,

But bears it out even to the edge of doom.

 

If this be error and upon me prov'd,

I never writ, nor no man ever lov'd.

                          *

Dem festen Bund getreuer Herzen soll

Kein Hindernis erstehn: Lieb' ist nicht Liebe,

Die, in der Zeiten Wechsel wechselvoll,

Unwandelbar nicht stets im Wandel bliebe.

 

Ein Zeichen ist sie fest und unverrückt,

Das unbewegt auf Sturm und Wellen schaut,

Der Stern, zu dem der irre Schiffer blickt,

Des Wert sich keinem Höhenmaß vertraut.

 

Kein Narr der Zeit ist Liebe! Ob gebrochen

Der Jugend Blüte fällt im Sensenschlag,

Die Liebe wankt mit Stunden nicht und Wochen,

Nein, dauert aus bis zu dem Jüngsten Tag!

 

Kann dies als Irrtum mir gedeutet werden,

So schrieb ich nie, ward nie geliebt auf Erden!   

                                                                             Ü: Max Josef Wolff

            *

       4c)  Ronsard-Typ (Frankreich)

        mit umarmenden Quartetten und variierten Sexten.

                abba/ abba/ ccd/ eed     oder     ccd/ ede

         

Daniel Casper von Lohenstein (1635 – 1683)

Umbschrifft eines Sarches.

 

Irdisches und Sterblich Volck / lebend-todte Erden-Gäste /    

Ihr Verwürfflinge des Himmels / ihr Gespenste dieser Welt /   

Denen nichts als falsche Waare / nichts als Rauch und Wind gefällt /  

Närrsche klettert / und besteigt / die bepalmten Ehren-Aeste /  

Setzt euch Seulen von Porphyr mauert euch aus Gold Paläste /  

Festigt Tempel euch aus Marmel / der der Zeit die Wage hält /  

Rafft zu euch mit gicht'gen Klauen den verdammten klumpen Geld/  

Macht euch euer stoltzes Lob durch gelehrte Schrifften feste.  

Aber wist: wann das Verhängnüs euer Lebens-Garn reisst ab/   

Schwindet Wissenschafft und Kunst / Schätze / Reichthum / Ehr und Tittel / 

Und ihr nehmet nichts mit euch / als den nackten Sterbe-Kittel:  

Wo ihr auch noch aus dem allen noch erschwitzet Sarch und Grab.  

Tausend / tausend sind gewest / die mich nicht erlangt noch haben /  

Die die Lüfte / die die Glutt / die der blaue Schaum begraben.  

                                              *

 

                                     Andreas Gryphius ( 1616 – 1664)

Vber die Geburt Jesu

 

    NAcht / mehr denn lichte Nacht! Nacht / lichter als der Tag /

Nacht / heller als die Sonn' / in der das Licht geboren /

Das Gott / der Licht / in Licht wohnhafftig / ihm erkohren:

    O Nacht / die alle Nacht' und Tage trotzen mag!

    O freudenreiche Nacht / in welcher Ach und Klag /

Vnd Finsternüß / und was sich auff die Welt verschworen

Vnd Furcht und Höllen-Angst und Schrecken war verlohren.

    Der Himmel bricht! doch fällt numehr kein Donnerschlag.

Der Zeit und Nächte schuff / ist dise Nacht ankommen!

Vnd hat das Recht der Zeit / und Fleisch an sich genommen!

    Vnd unser Fleisch und Zeit der Ewikeit vermacht.

Der Jammer trübe Nacht / die schwartze Nacht der Sünden

Des Grabes Dunckelheit muß durch die Nacht verschwinden.

    Nacht lichter als der Tag! Nacht mehr denn lichte Nacht!

                                          *

 

Andreas Gryphius ( 1616 – 1664)

Vber des HErrn Gefängnüß.

 

WIe in dem Garten sind dem Teufel eingegangen

    In seine Jägergarn' und harter Ketten Macht

    Die ihre Missethat erbeigen auff uns bracht;

So wird die Vnschuld selbst im Garten auffgefangen.

Die Freyheit fällt in Strick / durch List der grimmen Schlangen.

    Die Hand / durch welcher Krafft / das Werck der Welt erkracht /

    Der hellen Gottheit Glantz wird in der schwartzen Nacht

In Fessel eingelegt uns Freyheit zu erlangen.

    Der König wird ein Knecht / der tollen Knechte Schaar

    Schlägt auff den Erben zu. Er gibt sich selber dar /

Damit er was nicht frey / aus Band' und Kärcker reisse.

    Hilff / der du durch den Dinst das Dinsthauß umbgekehrt /

    Der du gebunden auch dem Starcken hast gewehrt:

Daß ich von Sünden frey / mich deines Dinst's befleisse.

                                                                                                gedruckt 1663

            *

         100 Sonette des Gryphius -    s. Gunter Hilles  Projekt Gutenberg DE

                  

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