Ehepaar_Busch2

 

  Lesen schadet den Augen

 

IMG_0010-red

                                   

                             Romantypologie   -   Romantyp Abenteuer

 

                          Einteilung nach Themen ( vgl. Ivo Braak ) - Romanbeispiele:

 

    Abenteuerroman  Gerstäcker: Gold

    Fantasy- (Märchenroman)  Ventker: Rückkehr nach Heil Viena

    Kriminalroman (-Novelle)  Fontane: Unterm Birnbaum

    Räuberroman  Vulpius: Rinaldo Rinaldini

    Reiseroman   Eichendorff: Ahnung und Gegenwart

    Robinsonade  Campe: Robinson der Jüngere

    Schäferroman  Matthiae Jonsohn: Damon und Lisille

    Schauer-/ Vampir-/ Horrorroman Hoffmann: Die Elixiere des Teufels (s. Ich-Erzähler)

    Schelmenroman  Grimmelshausen: Landstörzerin Courage (s. Ich-Erzähler: Erzähler - Roman)

    Wildwestroman  May: Das Vermächtnis des Inka  

 

 

            Abenteuerroman

 

Friedrich Gerstäcker (1816 – 1872)

Gold

Land! - Land!« Über die blaue leise wogende See schallte der laute jubelnde Ruf von der Mastspitze nieder, »Land!« - und »Land! Land!« schrie es im jauchzenden Echo nach, in Kajüte und Zwischendeck hinein, und von einem Ende des Decks zum ändern.

   Noch dämmerte kaum der Morgen; aber eben dieser erste lichte Streifen, der den östlichen Horizont erhellte, hatte auch die noch ferne zackige Küste dem Auge des vom Top ausschauenden Steuermanns verraten. Schon vor Tag war es ihm auf seiner Wacht so gewesen, als ob er manchmal das dumpfe Rauschen der Brandung hörte, wie es die Brise in unterbrochenen Absätzen herübertrug. Deshalb stieg er nach oben, und der dämmernde Morgen zeigte ihm, daß er sich nicht geirrt. Der Jubel, den die frohe Kunde hervorbrachte, kannte keine Grenzen, und auch der alte Seemann freutsich der willkommenen Erscheinung, wenn auch aus einem anderen grunde wie die Passagiere da unten.

   »Gott sei Dank«, murmelte er vor sich hin, als er langsam an den Wanten des Fockmastes wieder nieder an Deck stieg, »daß wir die ver| wünschten Landlubbers, das Passagierpack, nun endlich loswerden. Wie die Kerle grölen, daß sie nun bald wieder Schlamm treten können. So viel weiß ich aber, das war die letzte Fahrt, die ich mit einem Passagierschiff gemacht, und lieber wahrhaftig auf einem alten Walfischfänger Blubber auskochen, als sich mit solchem Gesindel noch einmal abzuplagen. - Hallo, da kommen sie -jetzt seh' ein Mensch die blinden Maulwürfe an.«

   Ingrimmig vor sich hin lachend, blieb er noch oben in den Wanten halten und schaute auf das Deck nieder, wo gerade unter seinen Füßen die Zwischendeckspassagiere aus der Vorderluke zutage drängten. Für den Seemann mochte es auch wohl ein komischer Anblick sein, wie die verschlafenen Gesichter der Leute, noch nicht halb munter, verdutzt umher und in die Höhe schauten, gerade als ob sie einen hohen, ganz nahen Berg mit den Augen suchen wollten. Die wenigsten wußten dabei, nach welcher Himmelsrichtung sie ausschauen müßten, die ersehnte Küste zu entdecken, und nur als die glänzende Sonne dem Meer entstieg, ließ sich in ihrer Scheibe das scharf und schwarz abgezeichnete Land nicht mehr verkennen. Leider war aber die Brise nicht besonders günstig, die Küste anzulaufen, und die wackere Brigg Leontine mußte schräg daran niederhalten, um durch Lavieren näher hinan zukommen. Gegen Mittag räumte der Wind allerdings etwas auf, und der Bug der Leontine konnte sich mehr der Küste entgegenneigen; die Brise blieb aber außerordentlich schwach, und das Fahrzeug rücktetrotz den ausgeblähten Segeln nur langsam von der Stelle.

   Den Passagieren durfte man es übrigens nicht verdenken, daß sie der Erlösung von dem engen Schiffsleben entgegenjubelten. Die Leontine, eine deutsche Brigg, hatte, seit sie von Hamburg ausgelaufen, eine Reise von beinahe sechs Monaten gehabt, der ein wöchentlicher Aufenthalt in Rio de Janeiro und Valparaiso allerdings einige, doch nur geringe und viel zu kurze Abwechslung gegeben, und – was versäumten sie indessen nicht alles an Bord. Jene ersten Auswanderer nach Kalifornien, zu denen im alten Vaterland nur eben auch die ersten, fabelhaft klingenden Nachrichten gefundener Schätze gedrungen waren, hatten noch alle den Kopf voll goldener Hoffnungen und Träume. In den Minen fanden sie, jener Kunde nach, »eine Unze Gold täglich«, und wenn sie diese nur geradehin zu zwanzig Taler Pr. Kur. taxierten, ließ sich eine vollkommen genaue Berechnung aufstellen, um was sie hier in jeder Woche nutzlosen Harrens gebracht wurden.

  Endlich, endlich war das so heiß ersehnte Ufer am Horizont in Sicht, und die Leute wogten und drängten jetzt hastig durcheinander, um so rasch als möglich ihre nötigen Vorbereitungen zum Landen zu treffen. Sie wollten nicht selber noch mutwillig Zeit versäumen.

   Kajüte und Zwischendeck hatten sich bis dahin auch ziemlich streng geschieden gehalten; der Kapitän des Schiffes gestattete wenigstens unterwegs nie, daß die Zwischendeckspassagiere das Hinterdeck betraten, wenn er auch den Kajütspassagieren nicht verwehren konnte, sich dann und wann unter die weniger begünstigten Reisegefährten zu mischen. Aber auch von dieser stillschweigenden Erlaubnis hatten die ersteren nur sehr spärlich Gebrauch gemacht, bis auf einmal die Nähe des Landes alle derartigen Formen aufzuheben schien. Es war ordentlich als ob die Leute ahnten, daß sie doch jetzt sehr bald alle miteinander »in einen Topf geworfen würden«, und alles drängte vorn nach der Back - dem Überbau des Vorkastells gerade am Bugspriet -um einen möglichst vollen Überblick über die Küste zu gewinnen.

   Wie es unter ähnlichen Verhältnissen auf fast allen Passagierschiffen geschieht, so lebten die meisten der Leute auch in dem Wahne, dass sie, das Land kaum in Sicht, auch schon aussteigen könnten, und zum innigen Ergötzen der Matrosen beendeten viele von ihnen in äußerster Hast ihre »Ufertoilette« - um sie gegen Abend wieder auszuziehen. Sostanden auch jetzt auf der Back der Leontine eine Anzahl von Menschen in den wunderlichsten Trachten versammelt, und zwar ein Teil von ihnen in Hemdsärmeln oder dünnen Jacken, wie sie gewöhnlich an Bord herumgingen, und andre wieder mit Röcken oder gar Fracks angetan, Stöcke in der Hand und schwarze hohe Hüte auf den Köpfen.

Besonders auffallend erschien unter diesen eine Figur, die man an Bord bis dahin kaum bemerkt hatte. Sie trug einen langen erbsgelben, allerdings arg mitgenommenen Mantel, mit einer unbestimmten Anzahl von Kragen jeder Breite. Dieser Mantel, dessen linker Ärmel einen hellgrünen baumwollenen und sehr dicken Regenschirm hielt, ging bis fast auf die Knöchel hinunter und ließ dort ein Paar schwere, mit großen Nägeln beschlagene Stiefel sichtbar werden, während unmittelbar oben darauf ein schmalrandiger, entsetzlich ausgeschweifter und abgeschabter Hut saß. Ob in dem Hute noch ein Kopf steckte, blieb dahingestellt; äußerlich war wenigstens nichts von einem solchen zu erkennen.

   Neben ihm stand ein junger, sehr anständig gekleideter Mann mit sorgfältig frisierten und geölten Haaren, ja selbst in gewichsten Stiefeln, und bückte neugierig fast mehr nach seinem Nachbar als dem Land hinüber. Es kam ihm nämlich sonderbar vor, fast ein halbes Jahr  mit allen diesen Leuten auf dem eng gedrängten Schiffe zusammengewesen zu sein, und jetzt plötzlich jemanden vor sich und an Bord zu sehen, der ihm vollkommen fremd und unbekannt schien. Herr Hufner, wie der junge Mann hieß, war aber zu schüchtern ihn anzureden, bis ein Hamburger - ein Kaufmann wie man munkelte, der, wegen schlechter Geschäfte daheim, bessere in Kalifornien beginnen wollte  - ihm ziemlich ungeniert den gelben Mantelkragen etwas zurückschob und dann ganz erstaunt ausrief: »Ballenstedt - hol's der Henker - Junge, wie siehst du aus?«

»Wie soll ich denn aussehen, Herr Lamberg«, sagte aber der Mann sehr ruhig, indes die Umstehenden in ein lautes Gelächter ausbrachen. »Man darf doch wohl seinen Mantel anziehen?«

   »Gewiß darf man, mein Bursche«, lachte der Hamburger, der noch kein Stück seiner Schiffskleidung abgelegt hatte, »aber wenn du nicht gerade jetzt bedeutend frierst, hättest du dir wohl das Stück Überzug mit seinem gewaltigen Fachwerk heute noch ersparen können. Oder willst du gleich an Land?«

»Sowie wir anlegen«, sagte der Mann auf das entschiedenste.

»Und wo ist dein übriges Gepäck?«

»Hier«, antwortete Ballenstedt und produzierte unter dem Mantel vor ein in ein rotbaumwollenes Taschentuch eingeknüpftes Bündel und - eine Schaufel, die er jedoch mürrisch wieder verbarg, als er die Fröhlichkeit der Umstehenden bemerkte. Diese hatten aber doch zu viel mit sich selbst zu tun, als auf den wunderlichen Gesellen weiter

zu achten, und die Matrosen, die jetzt auf die Back sprangen, die Anker da vom »klar zu machen«, brachen überhaupt die Unterhaltung kurz ab. Der Ort mußte geräumt werden, und die Passagiere zerstreuten sich wieder über Deck, um, hinter der Schanzkleidung vor, nach der immer noch fernen Küste sehnsüchtig hinüber zu schauen. (…)

                                                                    *

                               Fantasy - (Märchenroman)

                 Matthias Ventker  Debüt-RomanRückkehr nach Heil Viena“ 2007

 

            Kriminalroman (-novelle)

Michael HoppLübbings Hundstage, Kassel 2006 (vielleicht gibt’s da vom Autor mal ein placet für eine Seite Lokalkolorit, auch aus Bad Essen:

Fröhlich stiegen die beiden Mädchen aus dem Linienbus am Berliner Platz und machten sich auf den Weg zu ihrer Schule. Seit zwei Jahren besuchten Katja und Leonie das Carolinum, das älteste Gymnasium in Osnabrück. (…)

 Mein Favorit: Raymond Chandler: The Big Sleep (Der große Schlaf) 1939

                                                   *

Theodor Fontane  (1819 – 1898)

Unterm Birnbaum. Erzählung  (1885)

 

Vor dem in dem großen und reichen Oderbruchdorfe Tschechin um Michaeli 20 eröffneten Gasthaus und Materialwarengeschäft von Abel Hradscheck (so stand auf einem über der Tür angebrachten Schilde) wurden Säcke vom Hausflur her auf einen mit zwei magern Schimmeln bespannten Bauernwagen geladen. Einige von den Säcken waren nicht gut gebunden oder hatten kleine Löcher und Ritzen, und so sah man denn an dem, was herausfiel, daß es Rapssäcke waren. Auf der Straße neben dem Wagen aber ; stand Abel Hradscheck selbst und sagte zu dem eben vom Rad her auf die Deichsel steigenden Knecht: „Und nun vorwärts, Jakob, und grüße mir Öüller Quaas. Und sag ihm, bis Ende der Woche müßt' ich das Öl haben, Leist in Wrietzen warte schon. Und wenn Quaas nicht da ist, so bestelle der Frau meinen Gruß und sei hübsch manierlich. Du weißt ja Bescheid. Undweißt auch, Kätzchen hält auf Komplimente."

   Der als Jakob Angeredete nickte nur statt aller Antwort, setzte sich auf den vordersten Rapssack und trieb beide Schimmel mit einem schläfrigen „Hü!" an, wenn überhaupt von Antreiben die Rede sein konnte. Und nun klapperte der Wagen nach rechts hin den Fahrweg hinunter, erst auf das Bauer Orthsche Gehöft samt seiner Windmühle (womit das Dorf nach der Frankfurter Seite bin abschloß) und dann auf die weiter draußen am Oderbruchdamm gelegene Ölmühle zu. Hradscheck sah dem Wagen nach, bis er verschwunden war, und trat nun erst in den Hausflur zurück. Dieser war breit und tief und teilte sich in zwei Hälften, die durch ein paar Holzsäulen und zwei dazwischen angespannte Hängematten voneinander getrennt waren. Nur in der Mitte hatte man einen Durchgang gelassen. An dem Vorflur lag nach rechts hin das Wohnzimmer, zu dem eine Stufe hinaufführte, nach links hin aber der Laden, in den man durch ein großes, fast die halbe Wand einnehmendes Schiebefenster hineinsehen konnte. Früher war hier die Verkaufsstelle gewesen, bis sich die zum Vornehmtun geneigte Frau Hradscheck das Herumtrampeln auf ihrem Flur verbeten und auf Durchbruch einer richtigen Ladentür, also von der Straße her, gedrungen hatte. Seitdem zeigte dieser Vorflur eine gewisse Herrschaftlichkeit, während der nach dem Garten hinausführende Hinterflur ganz dem Geschäft gehörte. Säcke, Zitronen- und Apfelsinenkisten standen hier an der einen Wand entlang, während an der ändern übereinandergeschichtete Fässer lagen, Ölfässer, deren stattliche Reihe nur durch eine zum Keller hinunterführende Falltür unterbrochen war. Ein sorglich vorgelegter Keil hielt nach rechts und links hin die Fässer in Ordnung, so daß die untere Reihe durch den Druck der obenaufliegenden nicht ins Rollen kommen konnte.

   So war der Flur. Hradscheck selbst aber, der eben die schmale, zwischen den Kisten und ölfässem frei gelassene Gasse passierte, schloß, halb ärgerlich, halb lachend, die trotz seines Verbotes mal wieder offenstehende Falltür und sagte: „Dieser Junge, der Ede. Wann wird er seine fünf Sinne beisammen haben!"

Und dainit trat er vom Flur her in den Garten.

   Hier war es schon herbstlich; nur noch Astern und Reseda blühten zwischen den Buchsbaumrabatten, und eine Hummel umsummte den Stamm eines alten Birnbaums, der mitten im Garten hart neben dem breiten Mittelsteige stand. Ein paar Möhrenbeete, die sich samt einem schmalen mit Kartoffeln besetzten Ackerstreifen an ebendieser Stelle durch eine Spargelanlage hinzogen, waren schon wieder umgegraben; eine frische Luft ging, und eine schwarzgelbe, der nebenan wohnenden Witwe Jeschke zugehörige Katze schlich, mutmaßlich auf der Sperlingssuche, durch die schon hoch in Samen stehenden Spargelbeete.

   Hradscheck aber hatte dessen nicht acht. Er ging vielmehr rechnend und wägend zwischen den Rabatten hin und kam erst zu Betrachtung und Bewußtsein, als er, am Ende des Gartens angekommen, sich umsah und nun die Rückseite seines Hauses vor sich hatte. Da lag es, sauber und freundlich, links die sich von der Straße her bis in den Garten hineinziehende Kegelbahn, rechts der Hof samt dem Küchenhaus, das er erst neuerdings an den Laden angebaut hatte. Der kaum vom Winde bewegte Rauch stieg sonnenbeschienen auf und gab ein Bild von Glück und Frieden. Und das alles war sein! Aber wie lange noch? Er sann ängstlich nach und fuhr aus seinem Sinnen erst auf,  als er, ein paar Schritte vor sich entfernt, eine große, durch ihre Schwere  und Reife sich von selbst ablösende Malvasierbirne mit eigentümlich dumpfem Ton aufklatschen hörte. Denn sie war nicht auf den harten Mittelsteig,sondern auf eins der umgegrabenen Möhrenbeete gefallen. Hradscheck ging darauf zu, bückte sich und hatte die Birne kaum aufgehoben, als er sich von der Seite her angerufen hörte:

   „Dag, Hradscheck. Joa, et wahrd nu Tied. De Malvesieren kümmen all von sülwst."

   Er wandte sich bei diesem Anruf und sah, daß seine Nachbarin, die Jeschke, deren kleines, etwas zurückgebautes Haus den Blick auf seinen Garten hatte, von drüben her über den Himbeerzaun guckte.

   „Ja, Mutter Jeschke, 's wird Zeit", sagte Hradscheck. „Aber wer soll die Birnen abnehmen? Freilich, wenn Ihre Line hier wäre, die könnte helfen. Aber man hat ja keinen Menschen und muß alles selbst machen."

   „Na, Se hebben joa doch den Jungen, den Ede."

   „Ja, den hab ich. Aber der pflückt bloß für sich."                 ,

   „Dat sall woll sien", lachte die Alte. „Een in't Töppken, een in't Kröpp-ken."

   Und damit humpelte sie wieder nach ihrem Hause zurück, während auch Hradscheck wieder vom Garten her in den Flur trat.

   Hier sah er jetzt nachdenklich auf die Stelle, wo vor einer halben Stunde noch die Rapssäcke gestanden hatten, und in seinem Auge lag etwas, als wünsch' er, sie stünden noch am selben Fleck, oder es wären neue statt ihrer aus dem Boden gewachsen. Er zählte dann die Fässerreihe, rief im Vorübergehen einen kurzen Befehl in den Laden hinein und trat gleich danach in seine gegenüber gelegene Wohnstube.

   Diese machte neben ihrem wohnlichen zugleich einen eigentümlichen Eindruck, und zwar, weil alles in ihr um vieles besser und eleganter war, als sich's für einen Krämer und Dorfmaterialisten schickte. Die zwei kleinen Sofas waren mit einem hellblauen Atlasstoff bezogen, und an dem Spiegelpfeiler stand ein schmaler Trumeau, weiß lackiert und mit Goldleiste. Ja, das in einem Mahagonirahmen über dem kleinen Klavier hängende Bild (allem Anscheine nach ein Stich nach Claude Lorrain) war ein Sonnenuntergang mit Tempeltrümmern und antiker Staffage, so daß man sich füglich fragen durfte, wie das alles hierherkomme? Passend war eigentlich nur ein Stehpult mit einem Gitteraufsatz und einem Guckloch darüber, mit Hilfe dessen man über den Flur weg auf das große Schiebefenster sehen konnte.

  Hradscheck legte die Birne vor sich hin und blätterte das Kontobuch durch, das aufgeschlagen auf dem Pulte lag. Um ihn her war alles still, und nur aus der halb offen stehenden Hinterstube vernahm et den Schlag einer Schwarzwälder Uhr.

   Es war fast, als ob das Ticktack ihn störe; wenigstens ging er auf die Tür zu, anscheinend, um sie zu schließen; als es indes hineinsah, nahm er überrascht wahr, daß seine Frau in der Hinterstube saß, wie gewöhnlich schwarz, aber sorglich gekleidet, ganz wie jemand, der sich auf Figurmachen und Toile'ttendinge versteht. Sie flocht eifrig an einem Kranz, während ein zweiter, schon fertiger, an einer Stuhllehne hing.

   „Du hier, Ursel! Und Kränze! Wer hat denn Geburtstag?"

   „Niemand. Es ist nicht Geburtstag. Es ist bloß Sterbetag, Sterbetag deinei

Kinder. Aber du vergißt alles. Bloß dich nicht."

   „Ach Ursel, laß doch. Ich habe meinen Kopf voll Wunder. Du mußt mit

nicht Vorwürfe machen. Und dann die Kinder. Nun ja, sie sind tot, aber id

kann nicht trauern und klagen, daß sie's sind. Umgekehrt, es ist ein Glück."

   „Ich verstehe dich nicht."

   „Und ist nur zu gut zu verstehn. Ich weiß nicht aus noch ein und habe Sorgen über Sorgen."

   „Worüber? Weil du nichts Rechtes zu tun hast und nicht weißt, wie du den Tag hinbringen sollst. Hinbringen, sag', denn ich will dich nicht kränken und von Zeittotschlagen sprechen. Aber sage selbst, wenn drüben die Weinstube voll ist, dann fehlt dir nichts. Ach, das verdammte Spiel, das ewige Knöcheln und Tempeln. Und wenn du noch glücklich spieltest! Ja, Hradscheck, das muß ich dir sagen, wenn du spielen willst, so spiele wenigste s glücklich spielt, muß davonbleiben; sonst spielt er sich von haus und Hof. Und dazu das Trinken, immer der schwere Ungar, bis in die Nacht hinein.“

                                                                *

                                    Räuberroman

Christian August Vulpius (1762 – 1827)

Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann (1798)

 

Ganz Italien spricht von ihm; dieApenninen und die Täler Siziliens hallen wider von dem Namen Rinaldini. Er lebt in den Canzonetten der Florentiner, in den Gesängen der  Kalabresen und in den Romanzen des Sizilianer. Er ist der Held der Erzählungen in Kalabrien und Sizilien. Am Vesuv und am Ätna unterhält man sich von Rinaldinis Taten. Die geschwätzigen Städtebewohner Kalabriens versammeln sich abends vor ihren Häusern, und jeder in der Versammlung weiß ein Geschichtchen von dem valoroso Capitano Rinaldini zu erzählen. Es ist ein Vergnügen, sie darin wetteifern zu hören. Die Hirten in Siziliens Tälern unterhalten sich wechselseits mit Rinaldinis Abenteuern, und der einsilbige Landmann, der des Tages Last und Hitze trug, wird belebt, wenn er des Abends im Zirkel seiner Bekannten von Rinaldini sprechen kann. Weib und Mädchen, Jünglinge und Knaben hören mit Entzücken ihre Väter und Männer von Rinaldini sprechen. Kein Schlaf kömmt in ihre Augen, will der Hausvater bei der Arbeit sie munter erhalten und erzählt von Rinaldini. Er ist der Held der Erzählungen auf Wachtstuben, in den einsamen Wachttürmen der verschlossenen Soldaten an der Küste und gibt den Seeleuten Stoff zur Unterhaltung, wenn die Langeweile eines müßigen Landlebens oder eine Windstille auf dem Meere sie quält. Von Verdecken wie von Berggipfeln, in Spinnstuben wie in blumichten Tälern ertönen die Canzonetten, die auf Rinaldini gedichtet wurden, und über so manche küßliche Lippe schleicht harmonisch der Sang;

»An der lauten Meeresküste,

In dem Tal, in Feld und Wald,

In der öden Berge Wüste

Such' ich deinen Aufenthalt.

 

Rinaldini, dich zu finden,

Eil' ich ängstlich durch die Flur,

Und um mich Verlaßne schwinden

Alle Reize der Natur«,

 

Seufzte Rosa, die Betrübte,

Die ihn im Gefecht verlor;

Ängstlich weinte die Geliebte,

Die Rinaldo sich erkor.

 

Sieh, da glänzt im Mondenschimmer

Hell ein aufgespanntes Rohr.

Rosa sah des Rohrs Geflimmer,

Das in Büschen sich verlor.

»Ach, dahin! Ich werd' ihn finden,

Sagt des Herzens Ahnung mir.

Und wenn alle Sterne schwinden,

Zeigt die Liebe Pfade mir.

 

Saht ihr nicht, ihr hellen Sterne,

Saht ihr nicht den kühnen Mann,

Den ich suche nah und ferne,

Ach, und ihn nicht finden kann?

 

Husch, und horch, es rauscht dort drüben!

Ha, es pfeift! Das ist sein Ton.

Ja, ich find' ihn, meinen Lieben;

Seine Stimme hör' ich schon.« Usw.

 

Wollen wir sie nicht auch hören? - Wenn's gefällig ist, herbei!

   Hier ist Rinaldinis Geschichte. Die Abenteuer, welche man von ihm erzählt, sind geordnet, wie es die Zeitfolge fordert, und wenn die Erzählung derselben meinen Lesern nur halb so viel Vergnügen macht, nur halb so viel Unterhaltung gewährt, als das bei Kalabriens und Siziliens Bewohnern, als es bei Florentinern und Römern ganz der Fall ist, so werden sie das Buch, zu welchem Neugier oder Langeweile sie führte, nicht unbefriedigt aus den Händen legen. - Das ist es, was ich wünsche!

   Geschrieben am Rosalientage 1798; renoviert zur dritten Auflage an meinem Geburtstage, den 22. Jänner 1800; zur vierten Auflage an Helenens Namenstage 1801.

ERSTES BUCH

Die Liebe neckt im Aufenthalte

Der Furcht, wie sie im Freien neckt;

Was hat in Höhlen, was im Walde

Nicht schon ihr Rosenflug bedeckt?

 

Stürmisch brauste der Wind/tobend wie empörte Meereswogen, über den Nacken der hohen Apenninen, schüttelte die Wipfel hundertjähriger Eichen und beugte das schwankende Gesträuch, der Flamme des Feuers zu, an welchem, nahe bei einer steilen Felsenwand, in einem kleinen Tale, Rinaldo und Altaverde saßen. Die Nacht war dunkel, dichte Wolken verschleierten den Mond, und kein lächelnder Stern funkelte am Himmel.

   ALTAVERDE: »Ist das doch eine Sturmnacht, wie ich kaum noch eine erlebt habe! Rinaldo, schläfst du?«

   RINALDO: »Ich sollte schlafen? Ich habe das Wetter gern, so wie es jetzt ist. — 0, es stürmt hier und dort, um uns, neben uns, in mir und überall.«

   ALTAVERDE: »Hauptmann, du bist nicht mehr der, der du warst.“

   RINALDO: »Wohl wahr! Einst war ich ein unschuldiger Knabe, und jetzt -«

   ALTAVERDE: »Bist du verliebt.«

   RINALDO: »Bin ich ein Räuberhauptmann!«

  ALTAVERDE: »Hat dir das deine Donna angesehen? - Wer hält dich nicht, wenn du dich in großen Städten zeigst, für den reichsten Marchese aus dem edelsten Hause?«

   RINALDO: »Und dennoch setzt man Preise auf meinen Kopf.«

   ALTAVERDE: »Wer will sie verdienen?«

   RINALDO: »Vielleicht selbst einer der Unsrigen.«

   ALTAVERDE: »Pfui! So handeln die nicht, die dir den Eid der Treue geschworen haben.«

   RINALDO: »O, sie sind Menschen, und böse Menschen! Denn gut wirst du uns doch alle, beim Teufel, nicht nennen wollen?«

   ALTAVERDE: »Daß ich mit dir jetzt darüber stritt! Du hast i

Laune. Willst du trinken? Nicht? So trinke ich. - Was hilft jetzt das Grübeln und Grillisieren? Nun ist's zu spät.«

   RINALDO: »Wehe mir und dir, und uns allen, daß es zu spät ist - O Altaverde, welchen Tod werden wir sterben?«

   ALTAVERDE: »Den, der uns zugedacht ist. Ob nach unserm Tode Würmer, Fische oder Raben sich von uns mästen, das kann uns beinahe noch weit gleichgültiger sein als die Nachricht von einer päpstlichen Indigestion. Wir bezahlen auf keinen Fall den Totengräber selbst. Der Eingang ins Leben ist ein Pfad, den Könige und Bettler auf gleiche Art betreten. Der Ausgang hat vielerlei Pforten. Ob wir durch die Mittel- oder Seitentür hinauskommen, ist einerlei Hinaus läßt man uns gewiß. Will es der Himmel so haben, so können wir so gut ruhig auf unsern Betten sterben als andere Menschen, denen das auch vergönnet ist.« (…)

                                              *

                                                     Reiseroman

Joseph von Eichendorff (1788 – 1857)

Ahnung und Gegenwart (1815)

 

Die Sonne war eben prächtig aufgegangen, da fuhr ein Schiff zwischen den grünen Bergen und Wäldern auf der Donau herunter. Auf dem Schiffe befand sich ein lustiges

Häufchen Studenten. Sie begleiteten einige Tagereisenweit den jungen Grafen Friedrich, welcher soeben die Universität verlassen hatte, um sich auf Reisen zu bege-

ben. Einige von ihnen hatten sich auf dem Verdecke auf ihre ausgebreiteten Mäntel hingestreckt und würfelten. Andere hatten alle Augenblicke neue Burgen zu salutieren, neue Echos zu versuchen, und waren daher ohne Unterlaß beschäftigt, ihre Gewehre zu laden und abzufeuern. Wieder andere übten ihren Witz an allen, die das Unglück hatten am Ufer vorüberzugehen, und diese aus der Luft gegriffene Unterhaltung endigte dann gewöhnlich mit lustigen Schimpfreden, welche wechselseitig so lange fortgesetzt wurden, bis beide Parteien einander längst nicht mehr verstanden. Mitten unter ihnen stand Graf Friedrich in stiller, beschaulicher Freude. Er war größer als die ändern, und zeichnete sich durch ein einfaches, freies, fast altritterliches Ansehen aus. Er selbst sprach wenig, sondern ergötzte sich vielmehr still in sich an den Ausgelassenheiten der lustigen Gesellen; ein gemeiner Menschensinn hätte ihn leicht für einfältig gehalten. Von beiden Seiten sangen die Vögel aus dem Walde, der Widerhall von dem Rufen und Schießen irrte weit in den Bergen umher, ein frischer Wind strich über das Wasser, und so fuhren die Studenten in ihren bunten, phantastischen Trachten wie das Schiff der Argonauten. Und so fahre denn, frische Jugend! Glaube es nicht, daß es einmal anders wird auf Erden. Unsere freudigen Gedanken werden niemals alt und die Jugend ist ewig.

   Wer von Regensburg her auf der Donau hinabgefahren ist, der kennt die herrliche Stelle, welche der Wirbel genannt wird. Hohe Bergschluften umgeben den wunderbaren Ort. In der Mitte des Stromes steht ein seltsam geformter Fels, von dem ein hohes Kreuz trost- und friedenreich in den Sturz und Streit der empörten Wogen hinabschaut. Kein Mensch ist hier zu sehen, kein Vogel singt, nur der Wald von den Bergen und der furchtbare Kreis, der alles Leben in seinen unergründlichen Schlund hinabzieht, rauschen hier seit Jahrhunderten gleichförmig fort. Der Mund des Wirbels öffnet sich von Zeit zu Zeit dunkelblickend, wie das Auge des Todes. Der Mensch fühlt sich auf einmal verlassen in der Gewalt des feindseligen unbekannten Elements, und das Kreuz auf dem Felsen tritt hier in seiner heiligsten und größten Bedeutung hervor. Alle wurden bei diesem Anblicke still und atmeten tief über dem Wellenrauschen. Hier bog plötzlich ein anderes fremdes Schiff, das sie lange in weiter Entfernung verfolgt hatte, hinter ihnen um die Felsenecke. Eine hohe, junge, weibliche Gestalt stand ganz vorn auf dem Verdecke und sah unverwandt in den Wirbel hinab. Die Studenten waren von der plötzlichen Erscheinung in dieser dunkelgrünen Öde überrascht und brachen einmütig in ein freudiges Hurra aus, daß es weit an den Bergen hinunterschallte. Da sah das Mädchen auf einmal auf, und ihre Augen begegneten Friedrichs Blicken. Erfuhr innerlichst zusammen. Denn es war, als deckten ihre Blicke plötzlich eine neue Welt von blühender Wunderpracht, uralten Erinnerungen und niegekannten Wünschen in seinem Herzen auf. Er stand lange in ihrem Anblick versunken und bemerkte kaum, wie indes der Strom nun wieder ruhiger geworden war und zu beiden Seiten schöne Schlösser, Dörfer und Wiesen vorüberflogen, aus denen der Wind das Geläute weidender Herden herüberwehte.

  Sie fuhren soeben an einer kleinen Stadt vorüber. Hart am Ufer war eine Promenade mit Alleen. Herren und Damen gingen im Sonntagsputze spazieren, führten einander, 1lachten, grüßten und verbeugten sich hin und wieder, und eine lustige Musik schallte aus dem bunten, fröhlichen Schwalle. Das Schiff, worauf die schöne Unbekannte stand, folgte unseren Reisenden immerfort in einiger Entfernung nach. Der Strom war hier so breit und spiegelglatt wie ein See. Da ergriff einer von den Studenten seine Gitarre und sang der Schönen auf dem ändern Schiffe drüben lustig zu:

 

„Die Jäger ziehn in grünen Wald

Und Reiter blitzend übers Feld,

Studenten durch die ganze Welt,

So weit der blaue Himmel wallt.

 

Der Frühling ist der Freudensaal,

Viel tausend Vöglein spielen auf,

Da schallt's im Wald bergab, bergauf:

Grüß' dich, mein Schatz, viel tausendmal!"

 

Sie bemerkten wohl, daß die Schöne allezeit zu ihnen herübersah, und alle Herzen und Augen waren wie frische junge Segel nach ihr gerichtet. Das Schiff näherte sich ihnen hier ganz dicht. „Wahrhaftig, ein schönes Mädchen!" riefen einige, und der Student sang weiter:

 

„Viel rüst'ge Burschen ritterlich,

Die fahren hier in Stromes Mitt',

Wie wilde sie auch stellen sich,

Trau' mir, mein Kind, und furcht' dich nit!

 

Querüber übers Wasser glatt

Laß werben deine Augelein

Und der dir Wohlgefallen hat,

Der soll dein lieber Buhle sein."

 

Hier näherten sich wieder die Schiffe einander. Die Schöne saß vorn, wagte es aber in dieser Nähe nicht, aufzublicken. Sie hatte das Gesicht auf die andere Seite gewendet und zeichnete mit ihrem Finger auf dem Boden. Der Wind wehte die Töne zu ihr herüber, und sie verstand wohl alles, als der Student wieder weitersang:

 

„Durch Nacht und Nebel schleich' ich sacht',

 Kein Lichtlein brennt, kalt weht der Wind,

Riegl' auf, riegl' auf bei stiller Nacht,

Weil wir so jung beisammen sind!

 

Ade nun, Kind, und nicht geweint!

Schon gehen Stimmen da und dort,

Hoch überm Wald Aurora scheint,

Und die Studenten reisen fort."

 

So war es endlich Abend geworden, und die Schiffer lenkten ans Ufer. Alles stieg aus und begab sich in ein Wirtshaus, das auf einer Anhöhe an der Donau stand. Diesen Ort hatten die Studenten zum Ziele ihrer Begleitung bestimmt. Hier wollten sie morgen früh den Grafen verlassen und wieder zurückreisen. Sie nahmen sogleich Beschlag von einem geräumigen Zimmer, dessen Fenster auf die Donau hinausgingen. Friedrich folgte ihnen erst etwas später von den Schiffen nach. Als er die Stiege hinaufging, öffnete sich seitwärts eine Türe, und die unbekannte Schöne, die auch hier eingekehrt war, trat eben aus dem erleuchteten Zimmer. Beide schienen übereinander erschrocken. Friedrich grüßte sie, sie schlug die Augen nieder und kehrte schnell wieder in das Zimmer zurück.

Unterdes hatten sich die lustigen Gesellen in ihrer Stube schon ausgebreitet. Da lagen Jacken, Hüte, Federbüsche, Tabakspfeifen und blanke Schwerter in der buntesten Verwirrung umher, und die Aufwärterin trat mit heimlicher Furcht unter die wilden Gäste, die halbentkleidet auf Betten, Tischen und Stühlen, wie Soldaten nach einer bltigen Schlacht, gelagert waren. Es wurde bald Wein angeschafft, man setzte sich in die Runde, sang und trank des Grafen Gesundheit. Friedrich war heute dabei sonderbar zumute. Er war seit mehreren Jahren diese Lebensweise gewohnt, und das Herz war ihm jedesmal aufgegangen, wie diese freie Jugend ihm so keck und mutig ins Gesicht sah. Nun, da er von dem allem auf immer Abschied nehmen sollte, war ihm wie einem, der von einem lustigen Maskenballe auf die Gasse hinaustritt, wo sich alles nüchtern fortbewegt wie vorher. Er schlich sich unbemerkt aus dem Zimmer und trat hinaus auf den Balkon, der von dem Mittelgange des Hauses über die Donau hinausging. Der Gesang der Studenten, zuweilen von dem Geklirre der Hieber unterbrochen, schallte aus den Fenstern, die einen langen Schein in das Tal hinauswarfen. Die Nacht warsehr finster. Als er sich über das Geländer hinauslehnte, glaubte er neben sich atmen zu hören. Er langte nach der Seite hin und ergriff eine kleine, zarte Hand. Er zog denweichen Arm näher an sich, da funkelten ihn zwei Augen durch die Nacht an. Er erkannte an der hohen Gestalt sogleich das schöne Mädchen von dem ändern Schiffe. Er stand so dicht vor ihr, daß ihn ihr Atem berührte. Sie litt esgern, daß er sie noch näher an sich zog, und ihre Lippen kamen zusammen. „Wie heißen Sie?" fragte Friedrich endlich. „Rosa", sagte sie leise und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. In diesem Augenblicke ging die Stubentür auf, ein verworrener Schwall von Licht, Tabaksdampf und verschiedenen tosenden Stimmen quoll heraus, und das Mädchen war verschwunden, ohne daß Friedrich sie halten konnte. (…)

 

              Robinsonade

 

              Joachim Heinrich Campe (1746 – 1818)

                   Robinson Krusoe

                             Eine lehrreiche und unterhaltsame Erzählung für die Jugend.  (1779/80)

Robinson entfernt sich ohne Willen und Wissen seiner Eltern von der Heimat und geht zur See.

Vor langer Zeit lebte in Amsterdam, der Hauptstadt von Holland, ein deutscher Kaufmann, namens Robinson. Er war in jüngeren Jahren dorthin gezogen, und hatte sich durch glückliche Unternehmungen ein bedeutendes Vermögen erworben. Später kehrte er wieder in seine Heimat zurück und ließ sich in seiner Vaterstadt nieder. Mit jedem Tag vemehrte sich sein Wohlstand, und als im nach einigen Jahren ein Söhnlein geboren wurde, schien sein Glück vollkommen zu sein.

Das Kind gedieh, und die Eltern setzten ihre ganze Hoffnung auf den Knaben, da er der einzig war,  der seines Vaters Namen trug, weshalb man es dem geliebten Kinde an nichts fehlen ließ und ihm auch die leisesten Wünsche zu erfüllen trachtete. Der Knabe wuchs heran und zeigte treffliche Geistesgaben, sodass er zu den schönsten Hoffnungen berechtigte. Allein je älter, desto wilder und ungehorsamer wurde er. Auf dem Spielplatze sich mit andren ausgelassnen Knaben herumzutummeln war ihm sein Liebstes, und in allen tollen Spielen war er Meister.

   So kam es auch, dass ihm das Lernen in der Schule zuwider war, und er auf der Schulbank stets unter den Letzten sich befand. Seine frühere Ausgelassenheit steigerte sich mit der Zeit zu leichtsinnigsten und tollsten Streichen, wodurch er dem Vater manche Verlegenheit bereitete.

Der Vater bestimmte den nun der Schule entwachsenen Sohn zum kaufmännischen Geschäft, und brachte ihn zu einem Freunde nach Amsterdam in die Lehre, in der Hoffnung, dass er, wenn er unter fremden Leuten leben müsse, gewiss noch anders werde. Allein schon von Anfang zeigte Robinson zu diesem Berufe wenig Neigung, und der Umstand, dass er fast den ganzen Rag in dem großen Handelsgeschäfte angestrengt arbeiten sollte, benahm ihm alle Lust zu dem ihm aufgedrungenen Berufe. Seines grenzenlosen Leichtsinns wegen war sein Prinzipal auch durchaus mit ihm unzufrieden, und wendete sich deshalb wiederholt beschwerend an den sehr bekümmerten Vater. Dieser drohte zwar dem Sohne, dass er seine Hand von ihm abziehen werde, wenn er sich nicht bessere und von seinen losen Streichen lasse, allein alles Bitten, alles Mahnen und Drohen prallte ab an dem verhärteten Herzen des leichtsinnigen Sohnes.

   In seiner freien Zeit trieb es ihn meist an den Hafen hinaus, wo er mit Lust die Schiffe ein und auslaufen sah. Gar zu gerne wäre er einmal auf einem Schiffe gestanden, um dasselbe auch nach seiner inneren Einrichtung kennen zu lernen; noch viel lieber wäre er gleich mit einem solchen in die See hinausgefahren.

  Schon früh hatte er einen Schiffsjungen, namens Horn, kennen gelernt, der in gleichem Alter mit ihm stand und dem er seinen Wunsch mitteilte. Mit Vergnügen gewährte ihm Horn diese Bitte und nahm den Neugierigen in seinen Kahn auf, in welchem er eben seinen Dreimaster zufahren wollte, welcher demnächst in die See stechen sollte. Hocherfreut stieg Robinson ein und kam auf das Verdeck des Schiffes. Der Schiffsjunge musste alsbald an seine Arbeit gehen und überließ, den staunenden Robinson seinen Betrachtungen. Am meisten ergötzten diesen die Beschäftigungen der Matrosen an den großen Mastbäumen, an denen sie wie Katzen auf- und abkletterten. Das war eine Lust, eine Freude für ihn, dass es ihn gelüstet, das Emporklettern auch zu versuchen. Niemand schenkte ihm Aufmerksamkeit, da jeder seiner gewohnten Arbeit nachging. Ein Kanonenschuss schreckte ihn indes aus seinen Beobachtungen auf; es war dies das Zeichen zur Abfahrt: Robinson hatte sich zu lange auf dem Schiff aufgehalten. Der Wind trieb dasselbe unvermerkt aus dem Hafen in die offene See hinaus. Erst jetzt fiel es Robinson ein, dass er schon längst wieder zu Hause hätte sein sollen. Was nun tun? Zurück konnte er nicht mehr. Der Schiffsjunge Horn, der ihn hergebracht hatte und sich jetzt erst wieder sehen ließ, sprach ihm Mut ein, mit der Zusicherung, dass in ein paar Tagen das Schiff wieder zurückkehrte.

   Robinson trug aber dennoch Bedenken und teilte seinem Freunde mit, dass er ungerne bei seinem Herrn sei, dass dieser gewiss schon seinem Vater werde geschrieben haben, und ihn dann nichts Gutes erwarte. Es sei also wohl das Klügste, wenn er nicht wieder nach Amsterdam zurückkehre. Mit Jubel begrüßte Horn diesen Entschluss Robinsons, mit dem Bemerken, dass er auf der See noch sein Glück machen könnte. „Du wirst“, fügte er hinzu, „zuerst Schiffsjunge, dann Matrose, dann Steuermann, dann Kapitän und dabei verdienst du dir soviel Geld, dass du dir am Ende selbst ein eigenes Schiff kaufen kannst, und, sieh mein Freud, das ist auch mein Plan.“ Eine volltönige Bassstimme unterbrach hier den Glücksplan, den sich die beiden Burschen ausmalten. „Wer spricht da vom Kapitän?“, fragte sie plötzlich der Schiffsherr, der im Herantreten das letzte Wort noch gehört hatte. „Wer ist der Junge da?“, war seine zweite Frage. Der kecke Horn hatte bereits Robinson einen Wink gegeben und antwortete dem Kapitän:“ Er ist mit uns vom Lande geblasen worden und möchte jetzt Schiffsjunge werden.“ „Aha, auch ein Taugenichts!“, erwiderte der Kapitän, nachdem er durch einige Fragen das nötigste über Robinsons Herkunft erfahren hatte. Seine große übermäßige Gestalt gefiel ihm, und er sprach zu dem Harrenden: „ Nun, Bursche, steig einmal in den Mastkorb hinauf!“

Robinson trat an den Hauptmast, und mit Verwunderung sahen der Schiffsherr und die Matrosen, wie behände er hinaufkletterte. Als er wieder herabgestiegen war, klopfte ihm der Kapitän auf die Schulter und meinte, man wolle es mit ihm probieren. – Hierdurch wurde Robinson zuerst als Schiffsjunge angenommen.

 

      Zweites Kapitel

      Robinson bekommt die Seekrankheit und erleidet Schiffbruch. (…)

 Robinson

 

          Schäferroman

Matthiae Jonsohn  (= Johann Thomas)      -  Schäferdichtung des Barock

 

LISILLE (1663)

 Keuscher Liebes-Beschreibung  vom Damon vnd der Lisillen

 

TEutschland nach außgestandenem dreyssig jährigen Kriege saß nun wieder in Ruh / vnd fing an der Früchte deß edlen Friedens zu geniessen. Die Fürsten richteten die Policey vnd Gericht wider an / die Vnterthanen jhr Haußwesen vnd Nahrung / der sie in guter Sicherheit nachtrachten.  Groß vnd Klein waren bemüht / die von dem vnseligen Kriege noch übergebliebene Mißbrauch vnd Mängel außzufegen vnd zu verbessern / vnd das so herrliche Friedensgebäu jeder an seinem Ort mit einem ehrlichen stillen Leben zu zieren.

   Die Schäffer / dem Nahmen nach ein geringes / aber in der Warheit glückseliges Volk/ ergriffen jhre vorige Besitze zu Berg vnd Thal. Wald vnd Feld erschalte von jhrem frölichen Gesang. Der Friede selbst / ob er wohl durch Trompetten vnd Trommeln erstmahln verkündiget worden/ hatte doch numehr grössere Lust durch die Schäffer-Schallmey als durch jenen vngeheuren Thon weiter außgeruffen zuwerden. Wie nun diese löbliche Gesellschafft mitten in der grösten Kriegsgefahr sich noch so durchgebracht / ob sie wohl gleich andern Jnnwohnern vnsers geliebten Vatterlandes die Einäscherung jhrer Hütten / vnd jhrer Schäfflein Abnahm offt mit betrübten Augen anschauen müssen; Also wolte jhnen anjetzo vielmehr gebühren / dasjenige was zu Nutz vnd mehrerm Auffkommen jhrer Gesellschafft gereichig / wiederumb herfür vnd zu stande zubringen.

   Es ward deßwegen an dem Donaustrohm eine ansehnliche Zusammenkunfft beliebet / vnd begab sich neben ändern auch dahin der alte erfahrne Schäffer Benno / mit sich führende seine jüngste Tochter die Lisille / die ältere war schon vor etlichen Jahren an den Lucidor verheyrathet. Die Lisille aber ist die vornembste Person in vnserm Spiel/ mit dem Dämon; welcher junge sonst an der Pleissen wohnhaffte Schäffer selbiger Enden gleicher gestalt angelanget war / in Meinung bey dieser trefflichen Versamlung was nützliches zuerlernen / selbsten auch das seine nach Gelegenheit vnd vermögen mit beyzutragen.

   Nun begab sichs der Tage einem / daß er vor seiner Hüttenthür auff vnd ab spatzierte vnd anders nicht gedachte / als wie er diß vnd jenes jhm obliegendes Geschafft wohl außrichten / oder diesen vnd jenen die zeither vorgekomenen Handel zum guten End möchte befördern helffen. Jn dem er also mit seinen Gedancken rath helt / [6] siehe da die Lisille/ die mit jhrem Vatter in der Nachbarschaft wohnete / dieselbe Lisille gehet gleich mit geschwinden Tritten vorbei. Sobald hatte er sie nicht erbildet / daß nicht von stund an alle seine Anschläge bestunden / alle seine Betrachtungen / gleichsam wer er von einer höhern Gewalt getrofen / dahin suncken vnd zu nichts wurden. Kurtz darvon zureden / er war nicht mehr der vorige / sondern ein gantz anderer bestürtzter Damon (eine geschwinde Verenderung!) vnd wüste dennoch nicht / wer sie war / die jhm in sein Hertz einen so plötzlichen Eingriff gethan hatte. Nach jhr zu fragen durffte er sich nicht erkühnen / den vnzeitigen Verdacht vnd Nachrede zu vermeiden. Jhr also fort vnbekanter weise nachzulauffen / bedünckte jhm nit weniger vnanständlich als den Gesetzen der Höffligkeit zu wider zu seyn.

   Jn solchem zweiffelhafften Nachsinnen sprach jhm eben der Myrtillo zu / vnd nach dem dieser sich mit jhm [7] über etlichen gemeinnützigen Dingen besprächet / kam er seinem lustigen Humor nach auff allerhand kurtzweilige Schwäncke / vnd wüste insonderheit von den Schäfferinnen manch Histörgen zuerzehlen. Die eine ward gescholten / die andere gelobet / die Lisille aber allen vorgezogen. Vnd wer ist denn dieselbe Lisille? fragte Dämon: Du must wol / antwortete Myrtillo / sehr vnachtsam seyn / wenn du die nicht kennest / im Pfirschblütenkleyde / vnd die zumahl in deiner Nachbarschafft wohnet. Diß war der andere Sturm / der den Dämon anfiel. Dann nun konte er bald außrechnen / wer die jenige gewesen / die jhm in seinen Gedancken vor ohngefehr einer Stunde eine solche Verwirrung angerichtet. Jemehr er denn dieselbe rühmen hörte / jemehr begonde sein heimliches Feuer überhand zunehmen / wie wol er dasselbe / so gut er konte / verdruckte / darmit die Flammen nicht öffentlich herfür brächen.

   Aber es gieng nicht Acht Tage hin / da war es schon eine gemeine Rede vnter den Schäffem / Dämon vnd Lisille hetten einander lieb / da doch der gute Dämon noch kein Wort mit jhr geredet / sie aber jhn jhres erinnerns nicht einmahl gesehen. Vnd zwar dem Dämon gab dieses Gerücht nicht eine geringe Hoffnung zum gewünschten Außgang seines Vorhabens / dieweil gleichsam der Himmel durch den Mund der gantzen Gemeine darein willigte / vnd ein Vorzeugnuß gab / daß diß Paar sich vor ändern wol zusammen schicken würde. Nun fürchtete er sich / es möchte etwa dieser voreilende Ruff bey der Lisillen oder jhrem Vatter einen Vnwillen erwecken; Die aber als es vor sie kam / sich darüber wenig bewegten / hielten es vielmehr vor ein Geschwätz etlicher müssigen Leuthe / die etwa wegen der Nachbarschafft / oder sonst auß anderen geringe Muthmassungen jhre gewöhnliche Einfäll vnd was zureden haben müsten. So war auch diß nichts neues. Die Lisille hatte sich schon mit ändern mehr vexiren lassen müssen / zu denen sie doch so wenig Liebe getragen / als der Zeit zu dem jhr noch vnbekandten Damon.

   Gleichwol als er jhr dermahln vnter Augen kam / hielte sie anfangs nicht vor vnmüglich jhn zu lieben / vnd gefiel jhr fast wol / dem gemeinen Geschrey nach diesen Schäffer zum Liebhaber zu haben.

   Noch vnterstund sich keines dem andern sein Gemüth zu offenbahren / biß endlich der Dämon anfing durch die Psiche / die bey der Lisillen  wohl gelitten war / jhr einige Blumensträusser / daran er wüste dass sie eine sonderliche Freude hatte / mit freundlicher zuentbietung zuzuschicken. Worauff zwar die Lisille mehr nicht als einen Gruß zurück gab: Jedoch Zubezeugung daß jhr die übersandte Blümlein angenehm / pflegte sie dieselben entweder auff dem Haupt / oder an der Brust auffzustecken vnd öffentlich zutragen.

   Was geschieht? Dämon / auß gewissen Vrsachen genötiget muste auß dieser Nachbarschafit in eine andere Gegend außziehen / vnd dieweil er nun nicht mehr so offt seine geliebte Lisille zusehen bekam/ nahm er jhm für / sich mit jhrem Vatter bekant zu machen / vnd zuversuchen / ob es hiebey die Gelegenheit geben möchte / der Lisille Kundschafft zugleich selbst zuerlangen. Es wolte jhm aber dieser Anschlag nicht gelingen. Denn wie er sich gegen dem Benno gemeiniglich ernsthaffter Sachen annehmen muste / vnd denn diese der Lisillen nichts zuschaffen gaben; Also hat er sie niemahls antreffen noch sich jhrer Gegenwart erfreuen können. Jnmittelst ward auch die Psiche an ferrner Verrichtung jhrer Bottschafft verhindert. Die Lisille selbst gab einige fremde Anzeigungen von sich. Vnd ließ sich in summa deß Damons Glück in dieser neuen Wohnung so krebsgängig an / daß sich auch das vorerwehnte Gerücht jhrer beeder Lieb allmählig verlohr /die Sprach enderte / vnd den Namen vnsers Dämons bald mit dem Namen deß reichen Damets / bald mit deß stoltzen Stesichori / bald deß Thrasyms/ bald eines ändern verwechselte.

   Das ärgste war / daß er / der Dämon selbst / als er in dem Zeimerwäldlein  sich erfrischen vnd seiner Bekümmernus ein wenig entschlagen wolt / die Lisille mit einem ändern Schäffer daher spatzierend mit eygenen Augen ansehen muste. Geschwind tratt er hinter den Busch voller Eyffers / vmb achtzuhaben / wo doch diese Comcedi noch hinaus wolte. Aber da war vor jhn nichts ergetzliches. Die Lisille ließ sich von jhrem Gefährten an der Hand leiten / sprachte mit jhm vertraulich/ vnd bißweilen lächelte sie jhn an mit einer solchen Freundligkeit / die den Damon fast vnsinnig machte. So sehr jhm sonsten seine Lisille einmahl zu sehen verlangte / so verdrießlich war jhm dieser Anblick. O/ sprach er bey sich selbst / ist das die Lisille / die ich bißher so ser geliebet/ die aber meiner so wenig achtet? Die sich gegen diesem Fremden so freundlich / gegen mir aber so fremd stellet? Jch habe dem gemeinen Geschrey nicht glauben wollen; Nun kompt mir der Glaube in die Hand. Wolan / Lisille / ich muß diesem Schäffer sein Glück lassen / vnd nun versuchen / ob ich mich wieder in die vorige Freyheit setzen könne.

   Der abermahls Verwirte Dämon / der also die Sach verlohren gab/ bemühte sich nun vmb nichts mehr / als wie er jhm die verenderte Lilie nur gar auß dem Hertzen außbilde möcht. Aber vmb sonst. Sie war schon zu tieff eingewurtzelt / daß jhm bedünckte / er könte sie keinem andern mit gesunden Hertzen gönnen. Den gantzen Abend vnd die darauf folgende Nacht schlug er sich mit vnaußsprechlichem Vnmuth vnd fast verzweiffeiten Gedancken. Kein Schlaff kam in seine Augen / er träumte wachend / vnd stund deß Morgens noch mit grösserm Grahm wieder auff.

   Jm ersten Außgang begegnete jhm die Psiche / welcher er alsbald die gestrige Geschicht erzehlte / vnd nach deß fremden Schäffers Nahmen fragte. Die Psiche merckte auß der Beschreibung / wer es müste gewesen seyn. 0 Dämon / sagte sie / da last euch nicht leyde seyn. Jhr habt euch vor diesem nichts zubesorgen. Es ist der Lucidor / der Lisillen Schwester-Mann.

   Wie einer / der in schweren Träumen gelegen / vnd darin entweder mit Gespensten gepeiniget / oder an gefährlichen Felsen geklettert / oder über tiefte grausame schwartze Wasser zugehen gehabt / auch nach dem er erwacht / dannoch deß Traums vnd der außgestandenen vermeinten Gefahr nicht also gleich vergessen kan: Also gieng es alhier vnserm Dämon. Er holte offt Athem / vnd erseufftzte offt / fragte noch die Psiche vmb mancherley / ehe er sich recht besinnen mocht. Die Psiche aber halft jhm vollends auß dem Traum / vnd machte jhm wieder einen solchen Muth / daß er nun sich vnd seinen vngerechten Eyffer selbst außlachen muste. Er erkante seinen Irrthum gerne / vnd dachte weiter / es möchten die andere widrige Vermuthungen von seiner Lisille vielleicht auff gleichem Grunde bestehen. Dann daß sie mich / sagte er / ein vnd andermahl übersehen / das mag wol auß einer Vnachtsamkeit / oder auch vmb jhrer Auffmercker vnd meiner Mißgönner FaIcken-Augen zu betriegen mit fleiß geschehen seyn. Oder wer weiß / was jhr etwa damals im Sinn gelegen? Jst mir der Köpft doch auch nicht allzeit auffgeräumet. Vnd weiter / was ist vnbeständiger vnd vngewisser / als das gemeine Geschrey / das mir dennoch mit seiner Lügen die Lisille so wenig nehmen soll / als es sie mir mit seiner ersten Phantasey geben können.

                *

                                Schauerroman

E.T.A. Hoffmann: (1776 – 1822):  Die Elixiere des Teufels (1815/16)  (Ich-Erzähler)

 

             Wildwestroman

Karl  May: Winnetou    s. Ich-Erzähler

Karl May  ( 1842 – 1912)

Das Vermächtnis des Inka

„Corrida de toros, corrida de toros!" ertönte es aus dem Munde der Ausrufer, die, mit bunten Schleifen und Bändern geschmückt, die sich rechtwinklig kreuzenden Straßen von Buenos Aires durchzogen. Corrida de toros war das Thema, das seit mehreren Tagen alle Blätter der Stadt ausführlich behandelten, und Corrida te toros bildete den Gegenstand des Gesprächs in allen öffentlichen und Privatlokalen.

   Corrida de toros, zu deutsch Stiergefecht, ist ein Wort, das jeden Spanier und jeden, dem ein Tropfen spanischen Blutes in den Adern fließt, zu begeistern vermag. Er bekümmert sich nicht um die Einwände, die die Gegner dieser seiner Lieblingsvergnügung vorbringen, um zu beweisen, daß sie nicht nur moralisch, sondern auch anderweit verwerflich ist; er eilt zur Arena, um der Tierquälerei aus voller Kehle zuzujauchzen, und gerät vor Entzücken gar außer sich, wenn ein mannhafter Stier einem Pferd den Leib aufschlitzt oder einen der Toreadores auf die Homer spießt.

   Ja, Corrida de toros! Wie lange hatte man in Buenos Aires kein Stiergefecht gesehen; seit welcher Zeit war in der Plaza de toros das Wiehern der Pferde, das Brüllen der Stiere, das Geschrei der Kämpfer und das Jauchzen der Zuschauer nicht mehr vernommen worden ! Es war eine ganze lange Reihe von Jahren her, seit das letzte Stiergefecht stattgefunden hatte. Und daran waren die leidigen politischen Verhältnisse des Landes schuld.

   Der Krieg, in den Lopez, der Diktator von Paraguay 1, die argentinische Konföderation gezogen, hatte diese bis jetzt vierzig Millionen Dollars und fünfzigtausend Menschenleben gekostet, abgesehen von den zweimaihunderttausend Opfern, die die infolge des Krieges eingeschleppte Cholera noch forderte. Da war an Vergnügungen nicht zu denken gewesen. Das argentinische Heer befand sich gegen Lopez stets im Nachteil; in voriger Woche aber hatte es einen bedeutenden Erfolg errungen. Dieser wurde in Buenos Aires durch Illumination und festliche Umzüge gefeiert, und um sich bei der Bevölkerung beliebt zu machen, ergriff der neu erwählte Präsident Sarmiento diese Gelegenheit, die Erlaubnis zu einem Stiergefecht zu erteilen.

   Obgleich es zur Vorbereitung nur wenig Zeit gegeben hatte, waren zufälligerweise günstige Umstände eingetreten, die erwarten ließen, daß diese Corrida de toros ungewöhnlich fesselnd sein würde. Buenos Aires besaß nämlich selbst mehrere Stierkämpfer, die sich einen Namen erworben hatten und noch von keinem toro1) geworfen worden waren. Voller Eifersucht gegeneinander, brannten sie darauf zu entscheiden, welcher von ihnen der Geschickteste sei. Da meldete sich ein Fremder, ein Spanier aus Madrid, der seit einigen Tagen im Hotel Labastie wohnte, und bat um die Erlaubnis, sich mit um den Preis bewerben zu dürfen. Als er seinen Namen nannte, waren die Herren des Komitees mit Freuden bereit, ihre Einwilligung zu erteilen, denn dieser Mann war kein anderer als Senor Crusada, der berühmteste Espada im ganzen spanischen Königreich.

   Die Kunde davon war geeignet, die Einwohnerschaft der Stadt in Erregung zu versetzen, und doch sollte es noch viel besser kommen. Es meldeten sich nämlich noch zwei Senores, deren Anerbieten diese Erregung auf das höchste steigerte. Der eine war der Besitzer großer Viehherden. Er hatte vor einiger Zeit unter bedeutendem Kostenaufwand mehrere nordamerikanische Bisons kommen lassen, um zu versuchen, ob eine Kreuzung mit der einheimischen Rinderrasse zu erzielen sei; aber diese mächtigen Tiere hatten sich als so wild und unzähmbar erwiesen, daß er zu dem Entschluß gekommen war, sie erschießen zu lassen. Er erbot sich, den stärksten dieser Bisons kostenfrei zum Stiergefecht zu liefern. Der andere Senor war Besitzer einer Hacienda in der Gegend von San Nicolas. Seine Peons2) hatten, um einen Jaguar, der seine Schafherde lichtete, zu fangen, Gruben angelegt und waren so glücklich gewesen, das Raubtier lebendig und unverletzt in ihre Hände zu bekommen. Um es an einen Händler verkaufen zu können, hatte man es nicht getötet, und nun erklärte der Haciendero, daß er den Jaguar bringen lassen werde, um ihn dem Komitee zu schenken.

   Es läßt sich denken, daß diese Umstände, die Anwesenheit des berühmten Stierkämpfers und die Aussicht auf einen Kampf mit dem Büffel und dem Jaguar, nicht allein für das Publikum, sondern vor allen Dingen auch für die einheimischen Toreadores von höchster Wichtigkeit war.

   Toreadores oder Toreros werden die Stierfechter im allgemeinen genannt. Das Wort leitet sich von toro, der Stier, ab. Sie gliedern sich in mehrere besondere Abteilungen, von denen jede ihre eigene, bestimmte Aufgabe zu lösen hat. Da sind zunächst die Picadores, die, auf Pferden sitzend, den Stier mit ihren Lanzen zu reizen haben. Sodann die Banderilleros, denen es obliegt, falls ein Picador in Gefahr kommen sollte, die Aufmerksamkeit des Stieres durch bunte Schärpen von jenem ab- und aufsich zu lenken und ihm dünne, mit Widerhaken versehene Stäbe, die .Bander illos', in den Nacken zu stoßeil. Endlich die Espadas; die eigentlichen Kämpfer, die den Stier mit dem Degen zu erlegen haben. Sie haben ihren Namen von dem Worte espada, Degen, erhalten. Die Espadas heißen auch Matadores,  so genannt nach dem Worte matar, schlachten, und haben dem Stier, falls er nicht tödlich getroffen wird, aber doch niederstürzt, auch den Gnadenstoß zu geben.

   Wie bereits erwähnt, durchzogen Ausrufer die Straßen von Buenos Aires, um zu verkünden, daß der Stierkampf morgen stattfinden werde. Es war gegen Abend. Wer es tun konnte, der schloß sein Geschäft, um eine Restauration, ein Cafe oder eine Confiteria aufzusuchen und sich dort über das Ereignis des Tages auszusprechen. Confiterias sind öffentliche Lokale, in denen man nur Kuchen und Eis genießt.

   Das ,Cafe de Paris', das als das feinste in Buenos Aires gilt, war so von Gästen gefüllt, daß fast kein leerer Stuhl zu sehen war. Es ging da sehr lebhaft her, besonders an einem Tisch, zu dem die Blicke der Anwesenden immer und immer wiederkehrten, denn dort saßen die drei argentinischen Espadas, die morgen ihre Geschicklichkeit zu zeigen hatten. Unter sich voll gegenseitiger, heimlicher Eifersucht, zeigten sie sich in ihren Worten darin einig, daß es ein geradezu unverzeihlicher Fehler des Komitees sei, den Spanier zugelassen zu haben. Sie nahmen sich vor, alles mögliche zu tun, ihm seinen bisherigen Ruhm zu entreißen. Einer von ihnen, der das große Wort führte, vermaß sich, den nordamerikanischen Bison gleich mit dem ersten Stoß zu erlegen, und wandte sich an die Anwesenden, indem er sich erbot, mit jedem zu wetten, daß er sein Wort halten werde.

   In seiner Nähe saßen an einem anderen Tisch vier feingekleidete Herren, von denen besonders einer in die Augen fiel. Er war von beinahe riesiger Gestalt und trug, obgleich er nicht viel über fünfzig Jahre alt sein konnte, einen langen, dichten Vollbart, der fast die Weiße des Schnees hatte Sein Haupthaar besaß die gleiche Farbe. Infolge seines sonnverbrannten Gesichts hätte man ihn für einen Gaucho oder überhaupt für einen Mann halten sollen, der nur im Freien, auf der Pampa oder gar in der Wildnis lebte, aber sein eleganter, nach dem neuesten Pariser Schnitt gefertigter Anzug sprach vom Gegenteil. Seine drei Nachbarn waren ebenso sonnverbrannt wie er. Einer von ihnen wandte sich mit den Worten an ihn: „Hast du den Großsprecher gehört, Carlos?"

Der Weißbärtige nickte mit dem Kopf.

   „Was sagst du dazu?"

Der Gefragte zuckte mit der Achsel, während ein leichtes, geringschätziges Lächeln über sein ernstes Gesicht glitt.

   „Ganz deiner Meinung!" fuhr der andere fort. „Es gehört schon etwas dazu, einen hiesigen Toro, bevor er abgemattet ist, mit dem Degen zu erlegen. Du wirst besser wissen als wir, was ein nordamerikanischer Büffel zu bedeuten hat, denn du bist jahrelang dort oben gewesen und hast Bisons gejagt. Dieser Espada hier wird wohl schwerlich imstande sein, sein Versprechen zu halten."

   „Das meine ich auch. Mit dem Munde tötet man keinen Büffel." (…)

 

Francisco Solanc Lopez von Paraguay, der Napoleon Südamerikas, geb. 1827, gest. 1870, regierte in Paraguay seit 1862; von 1864—1870 führte er Kriege gegen Brasilien und Argentinien

                                                      *

                         Beispiele zum Romantyp A  - Abenteuerroman

 

> PDF Abenteuer

 

 

> Romantypologie