Gottfried August Bürger (1747 – 1794)
Lenore
Lenore fuhr ums Morgenrot
Empor aus schweren Träumen :
»Bist untreu, Wilhelm, oder tot?
Wie lange willst du säumen? «
Er war mit König Friedrichs Macht
Gezogen in die Prager Schlacht
Und hatte nicht geschrieben,
Ob er gesund geblieben.
Der König und die Kaiserin,
Des langen Haders müde,
Erweichten ihren harten Sinn
Und machten endlich Friede;
Und jedes Heer, mit Sing und Sang,
Mit Paukenschlag und Kling und Klang,
Geschmückt mit grünen Reisern,
Zog heim zu seinen Häusern.
Und überall, allüberall,
Auf Wegen und auf Stegen,
Zog alt und jung dem Jubelschall
Der Kommenden entgegen.
»Gottlob! « rief Kind und Gattin laut,
»Willkommen!« manche frohe Braut.
Ach! aber für Lenoren
War Gruß und Kuss verloren.
Sie trug den Zug wohl auf und ab
Und trug nach allen Namen;
Doch keiner war, der Kundschaft gab,
Von allen, so da kamen.
Als nun das Heer vorüber war,
Zerraufte sie ihr Rabenhaar
Und warf sich hin zur Erde
Mit wütiger Gebärde.
Die Mutter lief wohl hin zu ihr:
»Ach, dass sich Gott erbarme!
Du trautes Kind, was ist mit dir? «
Und schloss sie in die Arme.
»O Mutter, Mutter! hin ist hin!
Nun fahre Welt und alles hin!
Bei Gott ist kein Erbarmen.
O weh, o weh mir Armen! «
»Hilf Gott, hilf! Sieh uns gnädig an I
Kind, bet ein Vaterunser!
Was Gott tut, das ist wohlgetan,
Gott, Gott erbarmt sich unser! «
»O Mutter, Mutter! eitler Wahn!
Gott hat an mir nicht wohlgetan!
Was half, was half mein Beten ?
Nun ists nicht mehr vonnöten.«
»Hilf Gott, hilf! Wer den Vater kennt,
Der weiß, er hilft den Kindern.
Das hochgelobte Sakrament
Wird deinen Jammer lindern. «
»O Mutter, Mutter, was mich brennt,
Das lindert mir kein Sakrament!
Kein Sakrament mag Leben
Den Toten wiedergeben. «
»Hör, Kind! Wie, wenn der falsche Mann
Im fernen Ungerlande
Sich seines Glaubens abgetan
Zum neuen Ehebande ?
Las fahren, Kind, sein Herz dahin!
Er hat es nimmermehr Gewinn!
Wann Seel und Leib sich trennen,
Wird ihn sein Meineid brennen. «
»O Mutter, Mutter! hin ist hin!
Verloren ist verloren!
Der Tod, der Tod ist mein Gewinn!
O war ich nie geboren!
Lisch aus, mein Licht, auf ewig aus!
Stirb hin, stirb hin in Nacht und Graus!
Bei Gott ist kein Erbarmen;
O weh, o weh mir Armen! «
»Hilf Gott, hilf! Geh nicht ins Gericht
Mit deinem armen Kinde!
Sie weiß nicht, was die Zunge spricht;
Behalt ihr nicht die Sünde!
Ach, Kind, vergiss dein irdisch Leid
Und denk an Gott und Seligkeit,
So wird doch deiner Seelen
Der Bräutigam nicht fehlen. «
»O Mutter! was ist Seligkeit?
O Mutter! was ist Hölle?
Bei ihm, bei ihm ist Seligkeit,
Und ohne Wilhelm Hölle!
Lisch aus, mein Licht, auf ewig aus!
Stirb hin, stirb hin in Nacht und Graus!
Ohn ihn mag ich auf Erden,
Mag dort nicht selig werden. «
So wütete Verzweifelung
Ihr in Gehirn und Adern.
Sie fuhr mit Gottes Vorsehung
Vermessen fort zu hadern,
Zerschlug den Busen und zerrang
Die Hand bis Sonnenuntergang,
Bis auf am Himmelsbogen
Die goldnen Sterne zogen.
Und außen, horch! gings trapp trapp trapp,
Als wie von Rosseshufen,
Und klirrend stieg ein Reiter ab
An des Geländers Stufen.
Und horch! und horch! den Pfortenring
Ganz lose, leise, klinglingling!
Dann kamen durch die Pforte
Vernehmlich diese Worte:
»Holla, holla! Tu auf, mein Kind!
Schläfst, Liebchen, oder wachst du?
Wie bist noch gegen mich gesinnt?
Und weinest oder lachst du? «
»Ach, Wilhelm, du ?... So spät bei Nacht
Geweinet hab ich und gewacht;
Ach, großes Leid erlitten!
Wo kommst du hergeritten? «
»Wir satteln nur um Mitternacht.
Weit ritt ich her von Böhmen.
Ich habe spät mich aufgemacht
Und will dich mit mir nehmen. «
»Ach, Wilhelm, erst herein geschwind!
Den Hagedorn durchsaust der Wind,
Herein, in meinen Armen,
Herzliebster, zu erwarmen!«
»Lass sausen durch den Hagedorn;
Lass sausen, Kind, lass sausen!
Der Rappe scharrt; es klirrt der Sporn.
Ich darf allhier nicht hausen.
Komm, schürze, spring und schwinge dich
Auf meinen Rappen hinter mich!
Muss heut noch hundert Meilen
Mir dir ins Brautbett eilen. «
»Ach, wolltest hundert Meilen noch
Mich heut ins Brautbett tragen?
Und horch, es brummt die Glocke noch,
Die elf schon angeschlagen. «
»Sieh hin, sieh her! der Mond scheint hell.
Wir und die Toten reiten schnell.
Ich bringe dich, zur Wette,
Noch heut ins Hochzeitbette. «
»Sag an, wo ist dein Kämmerlein?
Wo? wie dein Hochzeitbettchen?«
»Weit, weit von hier! ... Still, kühl und klein!...
Sechs Bretter und zwei Brettchen!«
»Hats Raum für mich ?« - »Für dich und mich!
Komm, schürze, spring und schwinge dich!
Die Hochzeitgäste hoffen;
Die Kammer steht uns offen. «
Schön Liebchen schürzte, sprang und schwang
Sich auf das Ross behende;
Wohl um den trauten Reiter schlang
Sie ihre Lilienhände;
Und hurre hurre, hopp hopp hopp!
Gings fort in sausendem Galopp,
Dass Ros und Reiter schnoben
Und Kies und Funken stoben.
Zur rechten und zur linken Hand,
Vorbei vor ihren Blicken,
Wie flogen Anger, Heid und Land!
Wie donnerten die Brücken!
»Graut Liebchen auch? ... Der Mond scheint hell!
Hurra! Die Toten reiten schnell!
Graut Liebchen auch vor Toten? «
»Ach nein! ... Doch las die Toten! «
Was klang dort für Gesang und Klang?
Was flatterten die Raben?...
Horch, Glockenklang! Horch, Totensang:
»Lasst uns den Leib begraben! «
Und näher zog ein Leichenzug,
Der Sarg und Totenbahre trug.
Das Lied war zu vergleichen
Dem Unkenruf in Teichen.
»Nach Mitternacht begrabt den Leib
Mit Klang und Sang und Klage !
Jetzt führ ich heim mein junges Weib;
Mit, mit zum Brautgelage!
Komm, Küster, hier! komm mit dem Chor
und gurgle mir das Brautlied vor!
Komm, Pfaff, und sprich den Segen,
Eh wir zu Bett uns legen! «
Still Klang und Sang ... Die Bahre schwand . . .
Gehorsam seinem Rufen,
Kams hurre hurre! nachgerannt
Hart hinters Rappen Hufen.
Und immer weiter, hopp hopp hopp!
Gings fort in sausendem Galopp,
Dass Ros und Reiter schnoben
Und Kies und Funken stoben.
»Rapp! Rapp! mich dünkt, der Hahn schon ruft . . .
Bald wird der Sand verrinnen . . .
Rapp! Rapp! ich wittre Morgenluft. . .
Rapp! tummle dich von hinnen!
Vollbracht, vollbracht ist unser Lauf!
Das Hochzeitbette tut sich auf!
Die Toten reiten schnelle!
Wir sind, wir sind zur Stelle.«
Rasch auf ein eisern Gittertor
Gings mit verhängtem Zügel;
Mit schwanker Gert ein Schlag davor
Zersprengte Schloss und Riegel.
Die Flügel flogen klirrend auf,
Und über Gräber ging der Lauf;
Es blinkten Leichensteine
Rundum im Mondenscheine.
Ha sieh! Ha sieh! Im Augenblick,
Huhu! ein grässlich Wunder! ,
Des Reiters Koller, Stück für Stück,
Fiel ab wie mürber Zunder.
Zum Schädel, ohne Zopf und Schöpf,
Zum nackten Schädel ward sein Kopf,
Sein Körper zum Gerippe
Mit Stundenglas und Hippe.
Hoch bäumte sich, wild schnob der Rapp
Und sprühte Feuerfunken;
Und hui! wars unter ihr hinab
Verschwunden und versunken.
Geheul! Geheul! aus hoher Luft,
Gewinsel kam aus tiefer Gruft.
Lenorens Herz mit Beben
Rang zwischen Tod und Leben.
Nun tanzten wohl bei Mondenglanz
Rundum herum im Kreise
Die Geister einen Kettentanz
Und heulten diese Weise:
»Geduld, Geduld! Wenns Herz auch bricht!
Mit Gott im Himmel hadre nicht!
Des Leibes bist du ledig;
Gott sei der Seele gnädig! «
*
König Friedrich II., König von Preußen, der Große genannt und Maria Theresia
von Österreich, deutsche Kaiserin - Siebenjähriger Krieg (1756-63)
*
Ulrich und Ännchen (Herders Volkslieder 1 S. 79)
(aus: Des Knaben Wunderhorn. Nach dem Text der Erstausgabe von 1806/ 1808)
Es ritt einst Ulrich spazieren aus,
Er ritt wohl vor lieb Ännchens Haus:
"Lieb Ännchen, willst mit in grünen Wald?
Ich will dir lehren den Vogelsang."
Sie gingen wohl miteinander fort,
Sie kamen an eine Hasel dort,
Sie kamen ein Fleckchen weiter hin,
Sie kamen auf eine Wiese grün.
Er führte sie ins grüne Gras,
Er bat, lieb Ännchen niedersaß,
Er legt seinen Kopf in ihren Schoß,
Mit heißen Tränen sie ihn begoß.
“Ach Ännchen, liebes Ännchen mein,
Warum weinst du denn so sehr um ein'n?
Weinst irgend um deines Vaters Gut?
Oder weinest um dein junges Blut?
Oder bin ich dir nicht schön genug?"
"lch weine nicht um meines Vaters Gut,
Ich wein auch nicht um mein junges Blut,
Und, Ulrich, bist mir auch schön genug.
Da droben auf jener Tannen
Eilf Jungfrau sah ich hangen."
"Ach Ännchen, liebes Ännchen mein,
Wie bald sollst du die zwölfte sein."
"Soll ich denn nun die zwölfte sein?
Ich bitt, Ihr wollt mir drei Schrei verleihn."
Den ersten Schrei und den sie tat,
Sie rufte ihren Vater an;
Den andern Schrei und den sie tat,
Sie ruft ihren lieben Herrgott an;
Den dritten Schrei und den sie tat,
Sie ruft ihren jüngsten Bruder an.
Ihr Bruder saß beim roten kühlen Wein,
Der Schall, der fuhr zum Fenster hinein:
"Höret ihr Brüder alle,
Meine Schwester schreit aus dem Walde.
Ach Ulrich, lieber Ulrich mein,
Wo hast du die jüngste Schwester mein?"
"Dort oben auf jener Linde,
Schwarzbraune Seide tut sie spinnen."
"Warum sind deine Schuh so blutrot?
Warum sind deine Augen so tot?"
"Warum sollten sie nicht blutrot sein?
Ich schoß ein Turteltäubelein. "
"Das Turteltäublein, das du erschoßt,
Das trug meine Mutter unter ihrer Brust,
Das trug meine Mutter in ihrem Schoß
Und zog es mit ihrem Blute groß."
Lieb Ännchen kam ins tiefe Grab,
Schwager Ulrich auf das hohe Rad,
Um Ännchen sungen die Engelein,
Um Ulrich schrieen die Raben allein.
*