Vanitas mundi
Walther von der Vogelweide ( ca. 1170 - 1230)
(Alterslieder)
1
Ein meister las, troum unde spiegelglas
daz sie zem winde bi der staete sin gezalt.
Loup unde gras, daz ie min fröide was,
swiech nu erwinde, (i)z dunket mich also gestalt.
Dar zuo die bluomen manicvalt,
diu heide rot, der grüene walt,
der vogele sanc ein truric ende hat.
Dar zuo der linde süeze unde linde:
so we dir, Werlt, wie dirz gebende stat!
2
Ein tumber wan den ich zer welte han,
derst wandelbaere, wand er boesez ende git.
Ich solt in lan, kund ich mich wol verstan,
daz er iht baere miner sele grozen nit.
Min armez leben in sorgen lit,
der buoze waere michel zit;
nu fürhte ich siecher man den grimmen tot.
Daz er mit swaere mir geswaere,
vor vorhten bleichent mir die wangen rot.
3
Wie sol ein man der niuwan sünden kan
zer werlt gedingen oder gewinnen hohen muot ?
Sit ich gewan den muot daz ich began
zer werlte dingen merken übel unde guot:
Do greif ich, als ein tore tuot,
zer winstern hant reht in die gluot
und merte ie dem tiefel sinen schal.
Des muoz ich ringen mit geringen:
nu ringe und senfte ouch Jesus minen val.
4
Heiliger Krist, sit du gewaltic bist
der welt gemeine die nach dir gebildet sint,
Gip mir die list daz ich in kurzer frist
alsam gemeine dich sam din erwelten vint.
Ich was mit sehenden ougen blint
und aller guoten sinne ein kint,
swiech mine missetat der welte hal.
Mach e mich reine, e min unreine
versenke mich in daz verlorne tal.
*
Ein Dichter sagte: Traum und Spiegelglas
dem Winde zugezählt. Das würde ihrer Art entsprechen.
Laubblatt und Gras, die ich zur Freude stets besaß
wie immer auch es nun zu Ende geht, scheinen vermählt, von gleicher Art.
Genauso auch die vielen Blumen
die Heide – rot, der grüne Wald
Gesang der Vögel ein gar traurig Ende haben.
Und auch der Linde süßer Hauch, so zart:
O weh dir, Welt, wie dich der Kopfschmuck kleidet.
Törichte Illusion, wie ich die Welt verstand
zerfällt im Wandel, denn das böse Ende naht.
Sie aufzugeben, stände mir jetzt an
sonst bringt sie meiner Seele großen Schaden.
Mein armes Leben tief in Not gefallen
zur Buße wäre jetzt die höchste Zeit;
nun hab ich kranker Mann im Blick die Angst vorm Tod
dass er mich quält mit Qualen
die roten Wangen werden bleich vor Furcht.
3
Wie soll ein Mensch, der nichts kann ohne Sünde
noch Hoffnung setzen auf die Welt und hoch hinaus mit Plänen?
Seit mich der Irrwitz packte, dass ich anfing
die Dinge dieser Welt in gut und schlecht zu trennen:
da griff ich, wie ein Tor es tut
mit linker Hand direkt in Glut
bereicherte dem Teufel seinen Vorrat:
und folglich, dass ich wälze mich im Schmutz.
So wälze, Jesus, ab (die Last), heb mich, verfallen wie ich bin.
Heiliger Christ, seit dir die Macht gegeben ist
über die Welt, und alles, was nach deinem Bild geschaffen -
Gib mir die Gabe, dass ich (doch) nach kurzer Zeit
dich finde – in Gemeinschaft mit Erwählten.
Ich war mit offenen Augen blind
in allen guten Plänen nur ein Nichts
wie sehr ich auch der Welt verbarg mein großes Fehlen.
Mache mich rein, eh mich die Sündenlast
hinabsenkt in das Todestal Verlorener.
Walther-Adaption: Lyrikschadchen
Martin Opitz (1597 – 1639)
Ach Liebste / laß vns eilen /
Andreas Gryphius (1616 -1664)
Thränen in schwerer Kranckheit.
MIr ist ich weiß nicht wie / ich seuffze für und für.
Ich weyne Tag und Nacht / ich sitz in tausend Schmertzen;
Vnd tausend fürcht ich noch / die Krafft in meinem Hertzen
Verschwindt / der Geist verschmacht / die Hände sincken mir.
Die Wangen werden bleich / der muntern Augen Zir
Vergeht / gleich als der Schein der schon verbrannten Kertzen
Die Seele wird bestürmt gleich wie die See im Mertzen.
Was ist diß Leben doch / was sind wir / ich und ihr?
Was bilden wir uns ein! was wündschen wir zu haben?
Itzt sind wir hoch und groß und morgen schon vergraben:
Itzt Blumen morgen Kot wir sind ein Wind / ein Schaum /
Ein Nebel / eine Bach / ein Reiff / ein Tau' ein Schaten
Itzt was und morgen nichts / und was sind unser Thaten?
Als ein mit herber Angst durchaus vermischter Traum.
Andreas Gryphius (1616 -1664)
Vber seines Herrn Bruder P. GRYPHII Grab.
HIr ruht / dem keine Ruh' auff diser Welt bescheret:
Hir ligt der keinmal fil / hir schläfft das hohe Haupt /
Das für die Kirche wacht / hir ist / den GOtt geraubt /
Der voll von GOtt / doch nichts denn GOtt allein begehret.
Der Mann den GOtt als Gold dreymal durch Glutt bewehret
Durch Elend / Schwerdt / und Pest / der unverzagt geglaubt:
Dem GOtt nach stetter Angst / hat stete Lust erlaubt
Nach dem ihn Seuch / und Angst / und Tod umbsonst beschweret.
Dein Bischoff/ Crossen! ach! Den GOttes Geist entzünd’t.
Dem an Verstand und Kunst man wenig gleiche findt.
Vnd des Beredsamkeit kaum einer wird erreichen.
In dem die Tugend lebt / durch den die Tugend lehrt /
Mit dem die Tugend starb / dem JEsus itzt verehrt.
Was sich mit keinem Schatz der Erden läst vergleichen.
“Fredy” Kantor - Kafkas Grab - Maine 1998
- ein Geschenk für meine “Bunte Nachricht”,
das mich erst postum erreichte.
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Andreas Gryphius (1616 -1664)
Der Tod.
WAs hilfft die gantze Welt / Mensch! deine Stunde schlägt!
Zwar eh' als du vermeynt! doch wer muß nicht erbleichen?
Nun wird die Schönheit rauch; nun muß die Tugend weichen /
Nun ist dein Adel Dunst / die Stärcke wird bewegt!
Hir fällt auff eine Baar der Hutt und Krone trägt
Hir feilt die grosse Kunst / kein Tagus schützt die Reichen.
Man siht kein Alter an / die gantz verstellte Leichen
(O Freunde! gutte Nacht!) wird in den Staub gelegt
Du scheidest! gantz allein! von hir! wohin! so schnelle!
Diß ist des Himmels Bahn! die öffnet dir die Helle!
Nach dem der strenge Printz sein ernstes Vrtheil hegt.
Nichts bringst du auff die Welt / nichts kanst du mit bekommen:
Der einig' Augenblick hat / was man hat / genommen.
Doch zeucht dein Werck dir nach. Mensch! deine Stunde schlägt.

Matthias Claudius (1740 – 1815)
Der Mensch
Empfangen und genähret
Vom Weibe wunderbar
Kömmt er und sieht und höret
Und nimmt des Trugs nichts wahr;
Gelüstet und begehret,
Und bringt sein Tränlein dar;
Verachtet und verehret,
Hat Freude und Gefahr;
Glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,
Hält nichts und alles wahr;
Erbauet und zerstöret;
Und quält sich immerdar;
Schläft, wachet, wächst und zehret;
Trägt braun und graues Harr
Und alles dieses währet,
Wenn’s hoch kommt, achtzig Jahr.
Dann legt er sich zu seinen Vätern nieder,
Und er kömmt nimmer wieder.
(1783)

Johann Wolfgang Goethe (1749 - 1832)
Wanderers Nachtlied II ( Ein Gleiches)
Über allen Gipfel
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
(1780)
Luise Hensel (1798 - 1876)
Will keine Blumen mehr
Die Sommerrosen blühen
Und duften um mich her;
Ich seh' sie all' verglühen;
Will keine Blumen mehr.
Der Bruder mein tat ziehen
Mit Königs stolzem Heer,
Läßt einsam mich verblühen;
Will keine Blumen mehr.
Die blanken Waffen sprühen
Weit Funken um ihn her;
Das Herz tut ihm erglühen;
Will keine Blumen mehr.
Und Silbersterne blühen
Um Helm und Brustschild her,
Die blitzend ihn umziehen;
Will keine Blumen mehr.
Die Sommerrosen glühen
Und duften all' so sehr;
Ich seh' sie all' verblühen;
Will keine Blumen mehr.
(1814)
Eduard Mörike ( 1804 – 1875)
Denk es, o Seele!
Ein Tännlein grünet wo,
Wer weiß, im Walde,
Ein Rosenstrauch, wer sagt,
In welchem Garten?
Sie sind erlesen schon,
Denk es, o Seele,
Auf meinem Grab zu wurzeln
Und zu wachsen.
Zwei schwarze Rösslein weiden
Auf der Wiese,
Sie kehrten heim zur Stadt
In muntern Sprüngen.
Sie werden schrittweis gehn
Mit deiner Leiche;
Vielleicht, vielleicht noch eh
An ihren Hufen
Das Eisen los wird,
Das ich blitzen sehe!
(1851)
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Sargreste und Leichentuch Adolf Kolpings in der Kölner Minoritenkirche
Gottfried Keller (1819 – 90)
Abendlied
Augen, meine lieben Fensterlein
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!
Fallen einst die müden Lider zu,
Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh;
Tastend streift sie ab die Wanderschuh,
Legt sich auch in ihre finstre Truh.
Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn,
Wie zwei Sternlein innerlich zu sehn,
Bis sie schwanken und dann auch vergehn,
Wie von eines Falters Flügelwehn.
Doch noch wandl ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldenen Überfluss der Welt!
(1872)
Detlev on Liliencron (1844 – 1909)
Acherontisches Frösteln
Schon nascht der Staar die rote Vogelbeere,
Zum Erntekranze juchheiten die Geigen,
Und warte nur, bald nimmt der Herbst die Scheere
Und schneidet sich die Blätter von den Zweigen,
Dann ängstet in den Wäldern eine Leere,
Durch kahle Äste wird ein Fluß sich zeigen,
Der schläfrig an mein Ufer schickt die Fähre,
Die mich hinüberholt ins große Schweigen.
Augustin Wibbelt (1862 – 1947)
De Daut
De Daut geiht ümmer dör de Welt,
He hät so viell to dohen,
Geiht met de Seiß in’t riepe Feld
Un geiht up sachten Schohen.
He geiht des Wiäges still un swigg,
He kümt di in de Möte:
Du häörs em nich un sühs em nich
Un löpps em vör de Föte.
Enmol – de Stunn is em bekannt –
Dann bliff he vör di staohen
Un nimp di liese bi de Hand,
Un du moß met em gaohen.
*
Augustin Wibbelt, Mäten-Gaitlink. Gedichte in münsterländischer Mundart, Heckmann Verlag 7 1991 , S. 53
Naober Daut: In de Rausentied (An’n stillen warmen Summeraobend gonk)
Max Dauthendey (1867 - 1918)
O Grille, sing
O Grille, sing
Die Nacht ist lang.
Ich weiß nicht, ob ich leben darf
Bis an das End von deinem Sang.
Die Fenster stehen aufgemacht.
Ich weiß nicht, ob ich schauen darf
Bis an das End von dieser Nacht.
O Grille, sing, sing unbedacht,
Die Lust geht hin,
Und Leid erwacht.
Und Lust im Leid, -
Mehr bringt sie nicht, die lange Nacht.
Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)
Morgue
Da liegen sie bereit, als ob es gälte,
nachträglich eine Handlung zu erfinden,
die miteinander und mit dieser Kälte
sie zu versöhnen weiß und zu verbinden;
denn das ist alles noch wie ohne Schluss.
Was für ein Name hätte in den Taschen
sich finden sollen? An dem Überdruss
um ihren Mund hat man herumgewaschen:
er ging nicht ab; er wurde nur ganz rein.
Die Bärte stehen, noch ein wenig härter,
doch ordentlicher im Geschmack der Wärter,
nur um die Gaffenden nicht anzuwidern.
Die Augen haben hinter ihren Lidern
Sich umgewandt und schauen jetzt hinein.
Rainer Maria Rilke ( 1875 - 1926)
Der Tod der Geliebten
Er wusste nur vom Tod was alle wissen
dass er uns nimmt und in das Stumme stößt
Als aber sie, nicht von ihm fortgerissen,
nein, leis aus seinen Augen ausgelöst.
hinüberglitt zu unbekannten Schatten,
und als er fühlte, dass sie drüben nun
wie einen Mond ihr Märchenlächeln hatten
und ihre Weise wohlzutun:
da wurden ihm die Toten so bekannt,
als wäre er durch sie mit einem jeden
ganz nah verwandt; er ließ die andern reden
und glaubte nicht und nannte jenes Land
das gutgelegene, das immersüße
Und tastete es ab für ihre Füße.
Oskar Loerke (1884 – 1941)
Tote Tage
Tage, wo der lange Regenbesen
Geisterhaft im Garten scheuert, zischt,
Und die Welt, was sie gehabt, gewesen,
Nebelnd zur Vergangenheit verwischt,
Tage, wo man dumpf von Schrank zu Schranke
Wandert und in leere Fächer sieht,
Aufhorcht, wie der Laut im Schlosse kranke,
Und um seinethalb den Schlüssel zieht,
Und den Schlüssel dreht und drückt am Barte,
Wärmt, vergißt in schlaff geschlossner Faust,
Wann ein Feuer durch des Ofens Scharte
Unverständlich wie das goldne Leben saust.
Oskar Loerke (1884 – 1941)
Stundenschlag
Zwei schlanke Frauen trägt das plumpe Kupferpendel,
die Stirn und kühle Wange zueinander neigen.
Ihr dünnes Kleid fällt bauschig, mattblau wie Lavendel,
Vom Mund glüht Bitternis nach ausgetanztem Reigen.
(aus: Oskar Loerke, Wanderschaft, 1911)
Georg Trakl (1887 – 1914)
Nähe des Todes
2. Fassung
O der Abend, der in die finsteren Dörfer der Kindheit geht.
Der Weiher unter den Weiden
Füllt sich mit den verpesteten Seufzern der Schwermut.
O der Wald, der leise die braunen Augen senkt,
Da aus des Einsamen knöchernen Händen
Der Purpur seiner verzückten Tage hinsinkt.
O die Nähe des Todes. Lass uns beten.
In dieser Nacht lösen auf lauen Kissen
Vergilbt von Weihrauch sich der Liebenden schmächtige Glieder.
Georg Trakl (1887 – 1914)
Amen
Verwestes gleitend durch die morsche Stube;
Schatten an gelben Tapeten; in dunklen Spiegeln wölbt
Sich unserer Hände elfenbeinerne Traurigkeit.
Braune Perlen rinnen durch die erstorbenen Finger.
In der Stille
Tun sich eines Engels blaue Mohnaugen auf.
Blau ist auch der Abend;
Die Stunde unseres Absterbens, Azraels Schatten,
Der ein braunes Gärtchen verdunkelt.
Alfred Lichtenstein (1889 - 1914)
Der Entleibte
Weiß lieg ich
Auf einem Rest von einem Rummelplatz
Zwischen zackigen Bauten –
Brennende Blume ... leuchtender See...
Zehen und Hände
Streben ins Leere.
Sehnsucht zerreißt den weinenden Körper.
Über mich gleitet der kleine Mond.
Augen greifen
Weich in tiefe Welt,
Hüten versunken
Wandernde Sterne.
Baudelaire (1821 - 1867) Üb.: Stefan George, 1918
TRÜBSINN LXXVIII
Mir deucht ich hätte vor mir tausend jahr.
Kein Schreibtisch überfüllt mit einer schaar
Von versen liedern liebesbriefen akten
Und haaren schwer in rechnungen gepackten
Mehr heimlichkeiten als mein hirn bewacht.
Ein riesenbau ists wo in tiefem schacht
Mehr tote als im massengrabe rollen.
Ich bin ein kirchhof dem die sterne grollen
Wo — innre qualen — lange würmer ziehn •
Sie raffen meine liebsten toten hin.
Ich bin ein alt gemach wo rosen schmachten -
Mit einem Wirrwarr von verjährten trachten.
An offnen fläschchens dufte laben sich
Ein kläglich bildnis ein verblasster stich ..
Nichts dehnt sich wie der lahmen tage stocken
Wenn unter schneeiger jahre schweren flocken
Der missmut der aus dumpfer müde rinnt
Die grösse der Unsterblichkeit gewinnt.
Nun bist du weiter nichts - o staub mit leben -
Als ein granit mit schreckenshauch umgeben
In tiefer wüsten nebeldunst versenkt.
Vergessner alter sfinx dess niemand denkt •
Nirgends vermerkt und dessen wilde laune
Beim sonnenuntergang sein lied nur raune.
*
Ernst Blass (1890 - 1939)
Vormittag
Den grünen Rasen sprengt ein guter Mann.
Der zeigt den Kindern seinen Regenbogen,
Der in dem Strahle auftaucht dann und wann.
Und die Elektrische ist fortgezogen
Und rollt ganz ferne. Und die Sonne knallt
Herunter auf den singenden Asphalt.
Du gehst in Schatten, ernsthaft, für und für.
Die Lindenbäume sind sehr gut zu dir.
Im Schatten setzt du dich auf eine Bank;
Die ist schon morsch; - auch du bist etwas krank –
Du tastest heiter; daß ihr nicht ein Bein birst.
Und fühlst auf deinem Herzen deine Uhr,
Und träumst von einer schimmernden Figur
Und dieses auch: daß du einst nicht mehr sein wirst.
Kurt Tucholsky (1890 – 1935)
Letzte Fahrt
An meinem Todestag – ich wird ihn nicht erleben –
Da soll es mittags rote Grütze geben,
mit einer fetten, weißen Sahneschicht . . .
Von wegen: Leibgericht.
Mein Kind, der Ludolf, bohrt sich kleine Dinger
Aus seiner Nase – niemand haut ihm auf die Finger.
Er strahlt, als einziger, im Trauerhaus.
Und ich lieg da und denk: „Ach, polk dich aus!“
Dann tragen Männer mich vors Haus hinunter.
Nun fasst der Karlchen die Blondine unter,
die mir zuletzt noch dies und jenes lieh . . .
Sie findet: Trauer kleidet sie.
Der Zug ruckt an. Und alle Damen,
die jemals, wenn was fehlte, zu mir kamen:
vollzählig sind sie heut noch einmal da . . .
Und vorne rollt Papa.
Da fährt die erste, die ich damals ohne
Die leiseste Erfahrung küsste: die Matrone
Sitzt schlicht im Fond, mit kleinem Trauerhut.
Altmodisch war sie – aber sie war gut.
Und Lotte! Lottchen mit dem kleinen Jungen!
Briefträger jetzt! Wie ist mir der gelungen?
Ich sah ihn nie. Doch wo er immer schritt:
mein Postscheck ging durch sechzehn Jahre mit.
Auf rotem samtnen Kissen, im Spaliere,
da tragen feierlich zwei Reichswehroffiziere
die Orden durch die ganze Stadt,
die mir mein Kaiser einst verliehen hat.
Und hinterm Sarg mit seinen Silberputten,
da schreiten zwoundzwanzig Nutten —
sie schluchzen innig und mit viel System.
Ich war zuletzt als Kunde sehr bequem...
Das Ganze halt! Jetzt wird es dionysisch!
Nun singt ein Chor: Ich lächle metaphysisch.
Wie wird die schwarzgestrichne Kiste groß!
Ich schweige tief.
Kurt Tucholsky (1890 – 1935)
BERLINER HERBST
Für Paul Graetz
Denn, so um'm September rum,
denn kriejn se wacklije Beene —
die Fliejen nämlich. Denn rummeln se so
und machen sich janz kleene.
Nee —
fliejn wolln se nich mehr.
Wenn se schon so ankomm, 'n bisken benaut. . .
denn krabbeln se so anne Scheihm;
oda se summ noch 'n bisken laut,
aba mehrschtens lassen ses bleihm . . .
Nee -
fliejn wolln se nicht mehr.
Wenn se denn kriechen, falln se beinah um.
Un denn wem se nochmal heita,
denn rappeln se sich ooch nochmal hoch,
im denn jehts noch 'n Stiksken weita —
Aba fliejn... fliejn wolln die nich mehr.
Die andan von Somma sind nu ooch nich mehr da.
Na, nu wissen se — nu is zu Ende.
Manche, mit so jelbe Eia an Bauch,
die brumm een so über de Hände . . .
A richtich fliejn wolln se nich mehr.
Na, und denn finnste se morjens frieh,
da liejen se denn so hinta
de Fenstern rum. Denn sind se dot.
Und wir jehn denn ooch in’ n Winta.
- «Ick? Achtunfürzich.»
- «Kommst heut ahmt mit, nach unsan Lokal -?“
- «Allemal.»
Albert Hiemer (1907 – 1990)
Beerdigung (Zwölf Regenschirme/ sehen auf den Sarg)
Hans Bender (1919 - 2015)
Altersphotographie
Das bin nicht ich.
Einer, der dich
nicht mag, hat
das Negativ vertauscht.
Hans Bender (1919 - 2015)
Vergleich
So ist Altsein,
so steil, so zäh, so klamm.
Als zöge man seinen Schlitten
nicht durch Schnee, sondern Schlamm.
aus: Hans Bender, Auf meine Art. Gedichte in vier Zeilen, Hanser Verlag 2012, S. 32 und 28 ;
aus: Kurt Marti, Leichenreden. Sammlung Luchterhand Darmstadt und Neuwied, 1976, S. 31
Pfarrer Kurt Marti nach seiner schweren Erkrankung ein sehr herzliches Dankeschön für die Abdruckerlaubnis (August 2007)
und Gottes Segen. - Der Autor verstarb am 11.02.2017; RIP.
Maximilian Zander (1929 - 2016)
Aus Herrn Antrobus' Tagebuch
Wir sind einen Kalendertag
weitergekommen. Es gab keine Gasexplosion.
Genügend Unglück stand in der Zeitung.
Wir blieben verschont.
Unsere internen Katastrophen verursachen
kein Geräusch. Wir werden nicht auffällig.
Wie es aussieht, wird hier kurzfristig
keiner zur Axt greifen.
Manches macht uns nicht mehr so glücklich
wie früher. Wir essen Gemüse; rauchen nicht;
sind fleißig; gehen den Leuten aus dem Weg;
glauben nicht allzuviel; und lieben einander.
Aber das ist zu wenig.
Kein Zweifel, es wird zunehmend schwieriger,
von jemandem verläßlich zu wissen: Der hier
lebt noch, oder: Der ist schon tot.
Manchmal, nachts (es geht schnell vorbei)
entsetzt uns die Einsicht, daß wir allein sind
in diesem riesigen Sarkophag -
Wir gehen ins Haus und stellen den Fernseher an.
Maximilian Zander (1929- 2016)
Und gelegentlich abreisen
Wo früher
wie der Großvater sagt
der Sitz der Seele war
auch schon mal gebrüllt/geschluchzt wurde
jetzt dieser second hand shop
mit allem was Leichen lieben
Das ist die Lage.
Modern vermodern
aber die Asche nicht auf den Teppich -
fallen lassen und gelegentlich abreisen
im selbstgeblasenen bißchen unruhigen Wind
Das war ein Vorschlag.
Mitsingen im Chor
und nie den Einsatz verpassen
Wieviel Zeit bleibt dir noch?
Das ist immer die Frage.
*
aus: Maximilian Zander, Antrobus’ Tagebuch. Gedichte. Edition YE Bd. 7, Sistig /Eifel 2004
Dem Autor einen herzlichen Dank für die Abdruckerlaubnis, Mai 2010.
Maximilian Zander verstarb am 21.11.2016; RIP.
Peter Härtling © (1933 - 2017)
Nachhall
1.
Jetzt, nach den Einbrüchen, dem gestockten Atem,
richten sich die Sätze auf - nur
verstehe ich sie nicht mehr: Lettern oder Latten.
Ich versuche Schritte, denen ich Richtung geben kann:
Hinauf und hinüber. Was ist die Grenze?
Aus Übermut sage ich gegen die Wand: Eine Amsel singt,
was sie gelernt hat, zwischen Regen und Schnee.
Durchsichtiger werden die Aussichten.
Ich habe nichts von ihnen.
Leichentücher aus Glas gesponnen.
Ehe es Abend wird.
Ehe es Morgen wird.
Lebe ich den Tag ab.
Und versiegle meine Träume.
Geh! sage ich mir und schaue mir entgegen.
Wieviel weiß ich?
Wieviele Wörter fielen aus der Wand?
aus: Peter Härtling, kommen – gehen – bleiben. Gedichte. Radius Verlag
Stuttgart 2004 , S. 65; darin: Kp VI Nachhall 1. – 9.
Am 09.05.2011 erhielt ich in einem freundlichen Brief die Abdruckerlaubnis. Der Autor verstarb am 10. 07. 2017. R.I.P.
aus: Albert von Schirnding: Übergabe. Achtzig Gedichte. Ebenhausen b. München 2005,
S. 56 - Langewiesche-Brandt KG
Albert von Schirnding (* 1935)
Futur exakt
Ich werde geatmet haben
und werde vergangen sein
Ich werde umfangen dich haben
Du wirst verlassen sein
Du wirst getrauert haben
Der Schmerz wird verwunden sein
Die meiner gedachten – alle
werden verschwunden sein
Ich bin und muß doch wissen:
Ich werde gewesen sein
für immer dir entrissen
Mein Name wird ausgelöscht sein
aus: Albert von Schirnding, War ich da? Gedichte, Edition Toni Pongratz, Hauzenberg 2010, S. 13
Dem Autor für die spontane Antwort vom 16. 02. 2012 - und sein großzügiges Einverständnis mit einer Gedichtauswahl
für einen Abdruck hier - meinen ganz herzlichen Dank. (Ad)
Doris Runge (* 1943)
noch einmal
schönheit
löst sich vom grund
der klaffende
mund die spur
im verharschten schnee
dann willig
meinen schleier
und vergessen
mit schatten sprechen
umgehen mit gespenstern
*
Doris Runge (* 1943)
alter friedhof in güstrow
der weg aus steinen
der geborstene ring
der reigen
erloschener namen
ein beugen ein neigen
ich setze
den schritt wer führt
ich spring
von stein zu stein
*
(aus: Doris Runge, wintergrün. Gedichte, DVA Stuttgart 1991, S. 15/ 63
Der Autorin für Ihren freundlichen Rückruf vom 03. 04. 2017 und die erbetene
Abdruckerlaubnis ganz herzlichen Dank.
Theo Breuer (* 1956)
montage 3 – steinig geschliffen
auf knochen schlafen
sandige ewigkeiten
im harten bachbett
rückgestauter fluß
der soldat + das mädchen
glückgeklauter kuß
glasiges röcheln
gärtner blumen schauen sich
im schwarzen wasser
Theo Breuer (* 1956)
zeige deine wunde
grauer filzhut das erkennungszeichen
was wollt der mensch dort wohl verstecken
war der am end zum bloßen kopf bedecken
nein! fragen können den nicht mehr erreichen
denn der ist tot – ganz schnell mal ausgeblasen
wurd die kerze eines erdenlebens
war der so müd des lötens sich erhebens
ja! zu viel hatz ist tod auch dieses hasen
der fetten bürgern filzne haken schlug
schlichte stoffe ihrer welt fremd gemacht
(was feinen freunden vorkommt wie betrug)
ich seh den noch wie der die goldne krone trug
da hat man den auch dornig ausgelacht
(wem hat der seinen filzhut wohl vermacht)
aus: Theo Breuer, Land Stadt Flucht. Gedichte, Edition YE Sistig/ Eifel 2002
Dem Autor für die Abdruckerlaubnis seines Sonetts herzlichen Dank; Mai 2010
Andreas Knapp (*1958)
die letzten dinge
nur ich
ganz ohne dich
das ist die hölle
der schmerz
dich nicht genug geliebt zu haben
das ist mein fegefeuer
du
und alles in dir
ist unser himmel
*
(aus: Andreas Knapp, Brennender als Feuer. Geistliche Gedichte. Regensburg 2010 (5) Echter Verlag, S. 30)
Ich danke dem Autor Andreas Knapp für seine aufmunternde briefliche Antwort vom 24. 10. 2014 und dem
Echter Verlag für die Abdruckerlaubnis, um die ich Bruder Andreas nach seiner schönen Lesung am 13. Oktober
im Dom Forum („Die Erdichtung Gottes. Wie wir von Gott reden können“) gebeten hatte.
Kein Copyright:
Regina Ullmann (1884 – 1961) Und stirbt sie auch
Gottfried Benn (1886 – 1956)
Kleine Aster (Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt)
Requiem ( Auf jedem Tisch zwei. Männer und Weiber)
Schöne Jugend (s. Motivkreis Mensch)
Günter Eich (1907 – 1972)
Ende eines Sommers (Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume)
Mascha Kaleko (1907 - 1975)
Memento (Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang)
Hermann Lenz (1913 - 1998)
Das letzte Tor (Das Frühlicht im Fenster.)
Alte Villa (Auf den Schläfen lila Adern und Altersflecken)
Weiterlebendes Buch (Sonderbar, wenn dich ein Buch überlebt)
Christine Lavant (1915 - 73) Wieder brach er bei dem Nachbarn ein
Hans Bender (1919 - 2015)
Befund (Hier die Narben)
Senilità (Es fällt ihm schwer)
Beim Frisör (Das sind keine Federn)
Paul Celan (1920 - 1970)
Chanson einer Dame im Schatten (Wenn die Schweigsame kommt und die Tulpen köpft)
Der Sand aus den Urnen (Schimmelgrün ist das Haus des Vergessens.)
Inge Müller (1925 – 1966) Mond Neumond deine Sichel
Ingeborg Bachmann (1926 – 1973) Die große Fracht (s. Motivkreis Sommer)
Elisabeth Borchers (1926 - 2013)
eia wasser regnet schlaf (eia wasser regnet schlaf)
abschied (das licht starb/ da starb auch die finsternis)
immer ein anderes (und du willst auferstehen lebenslang)
Christian Saalberg (1926 - 2006) Komm, großer Wind lege ein Lächeln auf mein Grab http://www.christian-saalberg.de/
Jürgen Becker (* 1932)
Wunsch zu verschwinden (Spaziergänge; das Freimachen)
Später alles :/ die fortschreitende Ausdehnung
Das Thema der Vergänglichkeit (Ein Kretin im Westerwald, Hut im Nacken)
Reiner Kunze (* 1933) Selbstmord (Die letzte aller Türen)
Rainer Malkowski (1939 - 2003)
Die Herkunft der Uhr (Die Uhr kommt von der Sonne)
Gestürzte Linde (Meine Hand auf dem alten Leib)

Erich Adler ©
Schwerer Schritt
Kurz den Dom zu betreten
das sei ihr zur Zeit nicht möglich
nach dem Tod des Sohnes
Und während die eine der Frauen in die Stille
des Altarraums tritt vor das Kreuz
trennen sich
für ein paar Augenblicke
die Wege beider
zwischen
Gebet und Warten
Am Abend sehe ich
Bilder aus einem namhaften Zirkus
- Ein Clown dessen Verlust in Zeitungen stand -
sehe ihn lachen und trauern und
tanzen mit dem Papierschirm
auf imaginärem Seil.
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