“... Lesen schadet den Augen! ”

 

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                  Das Abend - Motiv in der Literatur

 

          Paul Gerhardt (1607 - 1676)

          Abendlied

          Nun ruhen alle Wälder,

          Vieh, Menschen, Stadt und Felder,

          Es schläft die ganze Welt;

            Ihr aber, meine Sinnen,

          Auf auf, ihr sollt beginnen,

          Was eurem Schöpfer wohlgefällt.

           

          Wo bist du, Sonne, blieben?

          Die Nacht hat dich vertrieben,

          Die Nacht, des Tages Feind;

            Fahr hin! Ein ander Sonne,

          Mein Jesus, meine Wonne,

          Gar hell in meinem Herzen scheint.

           

          Der Tag ist nun vergangen,

          Die güldnen Sterne prangen

          Am blauen Himmelssaal;

            Also werd ich auch stehen,

          Wenn mich wird heißen gehen

          Mein Gott aus diesem Jammertal.

           

          Der Leib eilt nun zur Ruhe,

          Legt ab das Kleid und Schuhe,

            Das Bild der Sterblichkeit;

          Die zieh ich aus. Dagegen

          Wird Christus mir anlegen

          Den Rock der Ehr und Herrlichkeit.

           

          Das Haupt, die Fuß und Hände

          Sind froh, daß nun zu Ende

          Die Arbeit kommen sei

            Herz, freu dich, du sollst werden

          Vom Elend dieser Erden

          Und von der Sünden Arbeit frei.

           

          Nun geht, ihr matten Glieder,

          Geht hin und legt euch nieder,

          Der Betten ihr begerht;

            Es kommen Stund und Zeiten,

          Da man euch wird bereiten

          Zur Ruh ein Bettlein in der Erd.

           

          Mein Augen steh n verdrossen,

          Im Hui sind sie geschlossen,

          Wo bleibt denn Leib und Seel?

            Nimm sie zu deinen Gnaden,

          Sei gut für allem Schaden,

          Du Aug und Wächter Israel.

           

          Breit aus die Flügel beide,

          O Jesu, meine Freude,

          Und nimm dein Küchlein ein!

            Will Satan mich verschlingen,

          So laß die Englein singen:

          Dies Kind soll unverletzet sein.

           

          Auch euch, ihr meine Lieben,

          Soll heute nicht betrüben

          Ein Unfall noch Gefahr.

            Gott laß euch selig schlafen,

          Stell euch die güldnen Waffen

          Ums Bett und seiner Engel Schar.

 

 

    Andreas Gryphius ( 1616 - 1664)

    Abend (Der schnelle Tag ist hin, die Nacht schwingt ihre Fahn)

 

 

              Philipp Harsdörffer   (1607 - 1658)

      Abend

      Vor der Sonnen Untergang längert (grös-

      sert) sich der Schattenstreiff/ wann sie stürzet in

      das Meer. Weist den halben Purpurrock/ wann

      die übermüden Pferde vor der Sonnen guldnen

      Wagen Seewarts eilen in die Flut. Des Mon-

      des Anbeginn/ so der Sterne Vormacht hält.

      Der Tag entschleicht/ verschwindet/ verflüsset/

      die Nacht dringt/ schleicht heran/ nahet/ spätet/

      verkündigt die Ruhe/ der Arbeitende den süssen

      Schlaf. Der rechte flammenfuß der Sonn’ ist

      in dem Meer. Die Sonn gehet zu Gnaden.

      Es hat die Abendröte den Purpur ausgebreitet/

      indem die Sonne meerwärts geht/ und lange

      Schatten leitet.

      Der Abend ist der Herold der Finsterniß/ der

      Pfortner der Nacht/ der Arbeit Feyerstund/ die

      holde Demmerung/ der Schatten braune Am-

      me/ der sanffte Ruff der Ruhe. Deß Tages fro-

      hes Ende. Wann die Her zuruckekehrt/ und

      die Hirten treiben ein. Sonne/ Nacht/ Schat-

      ten.

      Der Abend/ oder die untergehende Sonne/

      hat die Deutung des annahenden Todes.

                                                    (aus: Ph.H. - Poetischer Trichter , 1653)

                                       *

              Matthias Claudius (1740 - 1815)

              Abendlied

              Der Mond ist aufgegangen,

              Die goldnen Sternlein prangen

                Am Himmel hell und klar

              Der Wald steht schwarz und schweiget,

              Und aus den Wiesen steiget 

              Der weiße Nebel wunderbar.

               

              Wie ist die Welt so stille,  

              Und in der Dämmrung Hülle 

                So traulich und so hold!  

              Als eine stille Kammer,

              Wo ihr des Tages Jammer

              Verschlafen und vergessen sollt.

               

              Seht ihr den Mond dort stehen?

              Er ist nur halb zu sehen,

                Und ist doch rund und schön!

              So sind wohl manche Sachen,

              Die wir getrost belachen,  

              Weil unsre Augen sie nicht sehn.

               

              Wir stolze Menschenkinder 

              Sind eitel arme Sünder,

                Und wissen gar nicht viel;

              Wir spinnen Luftgespinste

              Und suchen viele Künste

              Und kommen weiter von dem Ziel.

               

              Gott, laß uns dein Heil schauen,

              Auf nichts Vergänglichs trauen,

                Nicht Eitelkeit uns freun!

              Laß uns einfältig werden

              Und vor dir hier auf Erden

              Wie Kinder fromm und fröhlich sein!

               

              Wollst endlich sonder Grämen

              Aus dieser Welt uns nehmen

                Durch einen sanften Tod!

              Und, wenn du uns genommen,

              Laß uns in Himmel kommen,

              Du unser Herr und unser Gott!

               

              So legt euch denn, ihr Brüder,

              In Gottes Namen nieder;

                Kalt ist der Abendhauch.

              Verschon uns, Gott! mit Strafen,

              Und laß uns ruhig schlafen! 

              Und unsern kranken Nachbar auch!

           

      Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832)

      Wandrers Nachtlied

       Der du von dem Himmel bist,

      Alles Leid und Schmerzen stillest,

      Den, der doppelt elend ist,

      Doppelt mit Erquickung füllest,

      -- Ach, ich bin des Treibens müde,

      Was soll all der Schmerz und Lust? —

      Süßer Friede,

      Komm, ach komm in meine Brust!

 

      Ein Gleiches

      Über allen Gipfeln

      Ist Ruh,

      In allen Wipfeln

      Spürest du

      Kaum einen Hauch;

      Die Vögelein schweigen im Walde.

      Warte nur, balde

      Ruhest du auch.

                                                    (1780/ 1815)

 

        Friedrich Schiller        (1759 - 1805)

        Der Abend

        (Nach einem Gemälde)

         

        Senke, strahlender Gott - die Fluren dürsten

        Nach erquickendem Tau, der Mensch verschmachtet,

        Matter ziehen die Rosse -

        Senke den Wagen hinab!

         

        Siehe, wer aus des Meeres kristall’ner Woge

        Lieblich lächelnd dir winkt! Erkennt dein Herz sie?

        Rascher fliegen die Rosse,

        Thetis1 , die göttliche, winkt.

         

        Schnell vom Wagen herab in die Arme

        Springt der Führer, den Zaum ergreift Cupido2

        Stille halten die Rosse,

        Trinken die kühlende Flut.

         

        An dem Himmel herauf mit leisen Schritten

        Kommt die duftende Nacht; ihr folgt die süße

        Liebe, Ruhet und liebet!

        Phöbus3, der liebende, ruht.

                                                                                  (1796)

          1 Thetis = Meernymphe   2 = Cupido = röm Liebesgott; Amor ;

         3 Phöbus =  Apoll, Sohn des Zeus und der Leto;  Gott der Dichtkunst,  der Seherkunst und des Todes                                                                                                                                                 

 

            Clemens Brentano (1778 – 1842)

            Abendständchen

            Hör, es klagt die Flöte wieder,

            und die kühlen Brunnen rauschen!

            Golden weh’n die Töne nieder,

            stille, stille, lass und lauschen!

             

            Holdes Bitten, mild Verlangen,

            wie es süß zum Herzen spricht!

            Durch die Nacht, die mich umfangen,

            blickt zu mir der Töne Licht.

                        (1803)

 

        Joseph von Eichendorff  (1788 - 1857)

        Der Abend

        Schweigt der Menschen laute Lust:

        Rauscht die Erde wie in Träumen

        Wunderbar mit allen Bäumen,

        Was dem Herzen kaum bewusst,

        Alte Zeiten, linde Trauer,

        Und es schweifen leise Schauer

        Wetterleuchtend durch die Brust.

         

 

        Joseph von Eichendorff  (1788 - 1857)

        Abend

        Gestürzt sind die goldnen Brücken

        Und unten und oben so still!

        Es will mir nichts mehr glücken,

        Ich weiß nicht mehr, was ich will.

         

        Von üppig blühenden Schmerzen

        Rauscht eine Wildnis im Grund,

        Da spielt wie in wahnsinigen Scherzen

        Das Herz an dem schwindelnden Schlund.

         

        Die Felsen möchte ich packen

        Vor Zorn und Wehe und Lust,

        Und unter den brechenden Zacken

        Begraben die wilde Brust.

         

        Da kommt der Frühling gegangen,

        Wie ein Spielmann aus alter Zeit,

        Und singt von uraltem Verlangen

        So treu durch die Einsamkeit.

         

        Und über mir Lerchenlieder

        Und unter mir Blumen bunt,

        So werf’ ich im Grase mich nieder

        Und weine aus Herzensgrund.

         

        Da fühl’ ich ein tiefes Entzücken,

        Nun weiß ich wohl, was ich will,

        Es bauen sich andere Brücken.

        Das Herz wird auf einmal still.

         

        Der Abend streut rosige Flocken,

        verhüllt die Erde nun ganz.

        Und durch des Schlummernden Locken

        Ziehn Sterne den heiligen Kranz.

                             *

         

        Gottfried Keller ( 1819 - 1890)

        Abendlied

        (Augen, meine lieben Fensterlein)

 

 

          Else Lasker - Schüler (1868 - 1945)

          Abend

          Es riss mein Lachen sich aus mir,

          Mein Lachen mit den Kinderaugen,

          Mein junges, springendes Lachen

          Singt Tag der dunklen Nacht vor Deiner Thür.

           

          Es kehrte aus mir ein, in Dir

          Zur Lust Dein Trübstes zu entfachen –

          Nun lächelt es wie Greisenlachen

           Und leidet Jugendnot.

          Mein tolles, übermütiges Frühlingslachen

           Träumt von Tod.

                         (aus: Styx)

                 

          Else Lasker – Schüler (1868 – 1945)

          Abend

           

          Hauche über den Frost meines Herzens

          Und wenn du es zwitschern hörst,

          Fürchte dich nicht vor seinem schwarzen Lenz.

           

          Immer dachte das kalte Wundergespenst an mich

          Und säete unter meinen Füßen – Schieling.

           

          Nun prägt in Sternen auf meine Liebessäule

          Ein weinender Engel seine Inschrift.

           

                  • (aus: Meine Wunder)
        • Else Lasker – Schüler (1868 – 1945)
        • Abendzeit
        • Erblasst ist meine Lebenslust - . . .

          Ich fiel so einsam auf die Erde,

          Von wo ich kam hat nie ein Mensch gewußt,

          - Nur du, da ich vereint einst mit dir werde.

           

          Ich bin von Meeresbuchten weit umstellt,

          Jedwedes Ding erlebe ich im Schaume.

          Der Mensch, der feindlich mich ereilt, zerschellt!

          Und ich weiß nur von ihm im Traume.

           

          Und so erlebe ich die Schöpfung dieser Welt,

          Auf Erden schon entkommen ihrer Schale.

          Und du der Stern, der hoch vom Himmel fällt,

          Vergräbt sich tief in meines Herzens Tale.

           

          Die Abendzeit verdüstert sehr mein Blut –

          Durchädert qualvoll meine müde Seele.

          Nackt steigt sie wieder aus der vorweltlichen Flut

          Und bangt, daß sie verkörpert hier auf Erden fehle.

           

          Und was der Tag, noch ehe er erwacht,

          Versäumte morgenrötlich zu erleben,

          Reicht ihm das träumerische Bilderspiel der Nacht

          In lauter bunterlei Geweben.

           

          Es bringen ferne Hände mir nach Haus

          Aus gelben Sicheln einen frommen Strauß.

          Der Zeiger wandelt leise um das Zifferblatt

          Der Sonnenuhr, die Gold aus meinem Leben hat.

           

          Sie glüht vom Pochen überwacht

          Und läutet zwischen Nacht und Mitternacht . . . . .

          Da wir uns sahen in der rätselhaften Stunde –

          Dein Mund blüht tausendschön auf meinem Munde.

           

          All meine Lebenslust entfloh

          Im dunkelen Gewande mit der Abendzeit.

          Ich suchte unaufhörlich einen Himmel wo . . . . .

          Nur in der Offenbarung ist der Weg zu ihm nicht weit.

           

          Und weiß es nicht, ob meine Mutter mein . . .

          Es war, die mir erschien im lichten Engelkleid . . .

          Bald ruht mein Herz zeitlos im Immersein . . .

          Geweihter Talisman für alle Ewigkeit.

                                                                          (aus: Die Sammlung, hrsg. v. Klaus Mann, Oktober 1933)

           

        Else Lasker – Schüler (1868 – 1945)

        Es kommt der Abend

         

         Es kommt der Abend und ich tauche in die Sterne,

        Daß ich den Weg zur Heimat im Gemüte nicht verlerne

        Umflorte sich auch längst mein armes Land.

         

        Es ruhen unsere Herzen liebverwandt,

        Gepaart in einer Schale:

        Weiße Mandelkerne –

         

        . . . . .Ich weiß, du hälst wie früher meine Hand

        Verwunschen in der Ewigkeit der Ferne . . . .

        Ach meine Seele rauschte, als dein Mund es mir gestand.

                           *

         

      Ernst Stadler ( 1883 – 1914)

      Bahnhöfe

       Wenn in den Gewölben abendlich die blauen Kugelschalen

       Aufdämmern, glänzt ihr Licht in die Nacht hinüber gleich dem Feuer von Signalen.

       Wie Lichtoasen ruhen in der stählernen Hut die geschwungenen Hallen

       Und warten. Und dann sind sie mit einem Mal von Abenteuer überfallen,

       Und alle erzne Kraft ist in ihren riesigen Leib verstaut,

       Und der wilde Atem der Maschine, die wie ein Tier auf der Flucht stille steht und um sich schaut,

       Und es ist, als ob sich das Schicksal vieler hundert Menschen in ihr erzitterndes Bett ergossen  hätte,

       Und die Luft ist kriegerisch erfüllt von den Balladen südlicher Meere und grüner Küsten und der großen  Städte.

       Und dann zieht das Wunder weiter. Und schon ist wieder Stille und Licht wie ein Sternhimmel  aufgegangen.

       Aber noch lange hallten die aufgeschreckten Wände, wie Muscheln Meergetön, die verklingende Musik eines

                                                                                                                                       wilden Abenteuers gefangen.

                                                                                                      

          Oskar Loerke (1884 – 1941)

          Abend

          Die Bäume wachsen und die Menschen wachsen,

          Ich seh es durch den Wind der Worte.

          Derweilen säumt mit silbergrüner Borte

          Der Abend euer Antlitz, lieben Freunde.

           

          Von seinem Erz erhascht, verweilt das Scheue,

          Den Sturz ins Dunkel will es überscheinen.

          Die Völker wiegen ewig ihre Kleinen:

          Ihr sollt nicht wissen, ihr nicht, was wir seufzten.

         

          Oskar Loerke (1884 – 1941)

          Gegen Abend

           

          Hörst du die pfingstliche Botschaft,

          In den Steinen Gebraus?

          Löse die Zunge den Stummen! -

          Doch du stiehlst dich hinaus.

           

          Hob dich so brünstige Kühnheit,

          Wenn du gefleht und begehrt,

          Weil dich dein Trostgeist getröstet,

          Nie ja würd es gewährt?

           

          Manchmal bei rauchendem Dämmern

          Hat es dir innen geglüht,

          Aber der geißelnde Nachtwind

          Rauschte dann immer verfrüht.

           

          Deine Brüder betreiben,

          Was sie gelernt und geübt, -

          Ach, du müßtest wohl weinen,

          Aber du bist zu betrübt.

                    (ersch. Berlin 1921)

 

            Max Herrmann – Neiße  (1886 – 1941)

            Abendlied

            Der Wind spricht durch die Birke abendlind,

            geschwisterlich, mit innig süßen Silben:

            erschrickst du vor des Sommertags Vergilben

            wiegt er dich in den Schlummer wie ein Kind.

             

            Durchs offne Fenster in dein Träumen dringt,

            die Wärme aller dieser lichten Zimmer,

            von einer Lampe noch vielleicht ein Schimmer,

            der fremden Frau, die am Klaviere singt.

             

            Du wartest, bis der Beifall sich erhebt,

            beneidest alle, die dort atmen dürfen,

            und wirst dann einsam deinen Nachttrunk schlürfen,

            wie einer, der nur noch zum Scheine lebt.

             

            An fremdem Glück sieht sich dein Auge blind,

            das eigne läßt du ungegrüßt vergilben:

            umsonst spricht durch die Birke abendlind

            der Wind geschwisterlich mit süßen Silben.

           

                                            *                         (geschr. 25.04. 1923/ Erstdruck 1924) )

     

            Max Herrmann – Neiße  (1886 – 1941)

            Farbiger Abend

            Der letzte Abend hatte soviel Farben,

            man müsste Maler sein, (das Wort ist arm!)

            zu zeigen, welche bunten Flammengarben

            aufsprühten im phantastischen Alarm,

            wie purpurn sich des Himmels Fläche füllte,

            im See sich spiegelnd als ein Weltenbrand,

            des Südens Glut sich unbeherrscht enthüllte

            im Widerschein an roter Bergeswand

            und üppiger die Feuersbrunst entfachte,

            daß sie wildlodernd in den Wald sich fraß,

            bis doch die Welt sich golden überdachte

            im Abendfrieden, der den Kampf vergaß.

           

                                                            (aus dem Zyklus Bilderbogen Lugano, September 1937)

 

 

              Georg Trakl ( 1887 - 1914)

              An die Schwester

              Wo du gehst wird Herbst und Abend,

              Blaues Wild, das unter Bäumen tönt,

              Einsamer Weiher am Abend.

               

              Leise der Flug der Vögel tönt,

              Die Schwermut über deinen Augenbogen.

              Dein schmales Lächeln tönt.

               

              Gott hat deine Lider verbogen.

              Sterne suchen nachts,  Karfreitagskind,

              Deinen Stirnenbogen.

                                  ( 1912)

                         

              Georg Trakl ( 1887 - 1914)

              Winterabend

                *

 

          Georg Heym (1887 – 1912)

          Vorortbahnhof

              (Berlin VI)

          Auf grüner Böschung glüht des Abends Schein.

          Die Streckenlichter glänzen an den Strängen,

          Die fern in einen Streifen sich verengen

          — Da braust von rückwärts schon der Zug herein.

           

          Die Türen gehen auf. Die Gleise schrein

          Vom Bremsendruck. Die Menschenmassen drängen

          Noch weiß vom Kalk und gelb vom Lehm. Sie zwängen

          Zu zwanzig in die Wagen sich herein.

           

          Der Zug fährt aus, im Bauch die Legionen.

          Er scheint in tausend Gleisen zu verirren,

          Der Abend schluckt ihn ein, der Strang ist leer.

           

          Die roten Lampen schimmern von Balkonen.

          Man hört das leise Klappern von Geschirren

          Und sieht die Esser halb im Blättermeer.

                                                                                              s.a. Petrarca-Sonett - Typ  (PDF ) und  B e r l in 

                                                                                                     (ersch. 1914)

                                                                  *

            Georg Heym (1887 – 1912)

            O weiter, weiter Abend

            O weiter, weiter Abend. Da verglühen

            Die langen Hügel an dem Horizont,

            Wie klarer Träume Landschaft bunt besonnt.

            O weiter Abend, wo die Saaten sprühen

            Des Tages Licht zurück in goldnem Schein.

            Hoch oben singen Schwalben, winzig klein.

            Auf allen Feldern glitzert ihre Jagd,

            Im Wald des Rohres und in hellen Buchten,

            Wo hohe Masten stehn. Doch in den Schluchten

            Der Hügel hinten nistet schon die Nacht.

                               *

            Georg Heym (1887 – 1912)

            Der Abend

            Versunken ist der Tag in Purpurrot,

            Der Strom schwimmt weiß in ungeheurer Glätte.

            Ein Segel kommt. Es hebt sich aus dem Boot

            Am Steuer groß des Schiffers Silhouette.

             

            Auf allen Inseln steigt des Herbstes Wald

            Mit roten Häuptern in den Raum, den klaren.

            Und aus der Schluchten dunkler Tiefe hallt

            Der Waldung Ton, wie Rauschen der Kitharen.

             

            Das Dunkel ist im Osten ausgegossen,

            Wie blauer Wein kommt aus gestürzter Urne.

            Und ferne steht, vom Mantel schwarz umflossen,

            Die hohe Nacht auf schattigem Kothurne.

                  *

                   

        Alfred Lichtenstein  (1889 - 1914)

        Trüber Abend

        Der Himmel ist verheult und melancholisch.

        Nur fern, wo seine faulen Dünste platzen,

        Gießt grüner Schein herab. Ganz diabolisch

        Gedunsen sind die Häuser, graue Fratzen.

         

        Vergilbte Lichter fangen an zu glänzen.

        Mit Frau und Kindern döst  ein feister Vater.

        Bemalte Weiber üben sich in Tänzen.

        Verzerrte Mimen schreiten zum Theater.

         

        Spaßmacher kreischen, böse Menschenkenner:

        Der Tag ist tot . . . Und übrig bleibt ein Name!

        In Mädchenaugen schimmern kräftge Männer.

        Zu der Geliebten sehnt sich eine Dame.

                                              *

       

        Stumm wurden längst die Polizeifanfaren,

        Die hier am Tage den Verkehr geregelt.

        In süßen Nebel liegen hingeflegelt

        Die Lichter, die am Tag geschäftlich waren.

         

        An Häusern sind sehr kitschige Figuren.

        Wir treffen manche Herren von der Presse

        Und viele von den aufgebauschten Huren,

        Sadistenzüge um die feine Fresse.

         

        Auf Hüten plauschen zärtlich die Pleureusen:

        O daß so selig uns das Leben bliebe!

        Und daß sich dir auch nicht die Locken lösen,

        Die angesteckten Locken meiner Liebe!

         

        Hier kommen Frauen wie aus Operetten

        Und Männer, die dies Leben sind gewohnt

        Und satt schon kosten an den Zigaretten.

        In manchen Blicken liegt der halbe Mond.

         

        O komm! o komm, Geliebte! In der Bar

        Verrät der Mixer den geheimsten Tip.

        Und überirdisch, himmlisch steht dein Haar

        Zur Rötlichkeit des Cherry-Brandy-Flip.

 

              *

        Ernst Blass (1890 - 1939)

        Der Abend

        Der tote Ton von Saiten, die gesprungen,

        Das Schreien wunder Stimmen ist verklungen,

        Mit Stöhnen ist das Tier, der Tag, verreckt.

         

        Doch von den Höhen plötzlich welche Feier!

        Mit sühnend wundervollem Schleier

        Hat sich das Leben leise überdeckt.

         

        Und Augen glänzen wie an hohen Festen.

        Und blasser seh ich das Geformte werden

        Und reicher und berauschender die Gesten.

         

        Durchs Fenster kommt der Prunk der Nacht geglitten,

        Sei still, mein Lieb! Der Tag hat ausgelitten,

        Vielleicht, daß wir noch einmal glücklich werden!

                                                           s. o. Sonett-Typen (PDF)

                                                                                *

      • Albert Hiemer ©(1907 – 1990)

        Abend

         

        Die Straße

        blutet von Rücklichtern.

         

        Hinter Schaufensterscheiben

        erkalten Kleider.

         

        In den Häusern

        blassen Fernsehschirme auf.

             *

            •         (aus: A. H. Schaufenster, Leeden 1983, S. 60)

        Albert Hiemer ©(1907 – 1990)

        Abend im Zimmer

         

        Die Kerze

        verbrennt ihr Herz.

         

        Auf schwarzen Kreisen

        eine Sonate.

         

        Die Zigarette

        glüht dem Mund entgegen.

         

                            (aus dem Nachlass Band 2  1963-1975,  S. 158)

              *

            Maximilian Zander © (1929 - 2016)

            Abend im Dorf

             

            Die Bäume haben ihre Vögel eingesammelt.

            Die Frauen legen die Haarspangen ab.

            Der Sonnenuntergang ist gleich zu Ende.

             

            Neunmal schlägt die alte Kirchturmuhr,

            wenn der Pastor schwarz das Schiff betritt.

            Jetzt gehen die Maulwürfe an die Arbeit.

             

                             *

      Dem Autor für seine briefliche Zustimmung vom 31. 05. 2010 herzlich gedankt. Das Gedicht stammt aus:

                    Maximilian Zander,  Antrobus‘ Tagebuch. Gedichte.  Edition YE  Sistig/ Eifel  2004 S. 20

 

              Jürgen Becker © (* 1932)

              Erinnerung an einen Abend

               

              Stimmen, aus dem Hintergrund

              des Zimmers; als wir etwas sagten,

              ging es um Wildnis, fauchende Tiere,

              den Dschungel auf der Fensterbank.

              Schrecken langwieriger Geschichten;

              später, festlich, zischende Lichter,

              nebenan Gäste betrachten die Gärten.

              Still blieben wir. Wind schlug die Birke,

              draußen, flackernd der Himmel,

              oder der Bildschirm hinter dem Fenster,

              etwas geschah, ohne uns

              überall, mit oder ohne Geräusch.

                           *

        aus: Jürgen Becker, Gedichte 1965-80, suhrkamp tb 690, 1981  S. 319

        Dem Büchner-Preisträger 2014 für seinen Brief und die Abdruckerlaubnis Juni 2014 ganz herzlich gedankt.

 

    Reiner Kunze  (* 1933)

    abends (aus: eines jeden einziges leben, S. Fischer Verlag 1986 S. 24

 

 

            Abends

            Der berg legt den wald

            in den nacken, sein schwarzes

            geweih

             

            Der himmel, der fegebaum, wirft

            sterne ab, und an milchigem geäst

            weht ein rest von bast

 

                                                                      *

   Ich danke meinem Lieblingsautor, dass seine Gedichte mich seit Jahrzehnten immer wieder vor schulischen

   Schäden geschützt haben, für die Befreiung vom Copyright und sein schönes Geschenk, das mich so sanft

   “auf katzenpfoten”  gehend erreichte, die Krallen freundlich geschlossen, um meine “Rekonvaleszenz” zu

   schärfen.

 

            Peter Härtling  (1933 - 2017)

            Abendsätze

             

            Dich schlafen zu sehen,

            eingerollt

            wie eine Katze

            und ausgeschlossen

            zu sein

            aus deinem Traum –

            nach so vielen Jahren

            genieße ich es,

            nichts zu haben

            von dir

            als dieses

            ungleiche Vertrauen.

       

       

      (aus: Die Mörsinger Pappel. Gedichte. Luchterhand Verlag, Darmstadt und Neuwied 1987, S. 53)

       

            Peter Härtling  (1933 - 2017)

            Abend

             

            Das Wasser steigt

            mit dem Abend.

            Es ist keine Flut vorausgesagt,

            sie käme nie so ruhig.

            Vielleicht verwechselt

            der Abend das Wasser

            mit dem Licht. Ein Licht,

            das wir vergessen: feucht

            und mit einem atmenden

            blutigen Rand. Immer

            unerwartet. Licht, das

            mit den Kriegen kommt,

            lange vor den Klagen,

            lange vor den Geschichten,

            die ohne Ende bleiben werden,

            dieses Licht, das dem Wasser

            gleicht, an das wir uns

            wieder erinnern: feucht

            und mit blutigem Rand,

            aus dem Stoff toter Seelen.

             

                                *

      (aus: Peter H.ärtling,  kommen – gehen – bleiben. Gedichte. Radius Verlag  Stuttgart S. 30)           

      Am 09.05.2011 erhielt ich in einem freundlichen Brief die Abdruckerlaubnis. Der Autor verstarb am 10. 07. 2017. R.I.P.

       

            Michael Krüger (* 1943)

             

            Natürlich kann man sich

            den Schöpfer des Universums

            als einen Gaukler denken.

            Alles verruchtes Spiel,

            Ausdruck beginnender Müdigkeit.

            Nur manchmal, wenn wir

            am Abend, einer Gewohnheit folgend,

            uns auf der Wiese versammeln,

            um die Nacht still zu begrüßen,

            sind wir vor Staunen sprachlos:

            Um uns zu foppen, zeigt er uns

            Proben seines großen Talents.

                 *

    aus: M. K., Unter freiem Himmel. Gedichte. Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M. 2007, S. 17

 

            Michael Krüger (* 1943)

             

            Auf dem Heimweg, der nicht nach Hause führt,

            weil sich das Haus, das eng bemessene,

            einen andern Mieter suchen durfte, sah ich

            den Krähen zu, die mit weiten Schwüngen

            ihr schwarzes Epos in den Abend schrieben.

            Die Luft begann zu glühen. Und die Sonne,

            schon nicht mehr sichtbar, schickte ihre

            Stellvertreter, um zu zählen, was noch war.

            Die Dinge müssen schweigen. Und dennoch,

            sagten die Steine. Und trotzdem, das Holz.

            Laß sie reden, dachte ich, bleibe stumm,

            denn wenn du den Dingen Worte leihst,

            sprichst du nur noch von dir selbst.

 

                  *

      aus: M. K., Unter freiem Himmel. Gedichte. Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M. 2007, S. 26

    Dem Autor für sein freundliches Copyright im Anschluss an seine Lesung im Blue Note Osnabrück auf Einladung der

      Buchhandlung zur Heide anlässlich der 300. LITTERA-Veranstaltung (15. 02. 2016) meinen herzlichen Dank.

              *

 

          Andreas Noga (* 1968)

          kamingedicht

           

          dieses gedicht sitzt mit mir am kamin

          und wärmt sich die versfüße

           

          wir lauschen in die stille

          zwischen dem knacken der scheite

           

          die leicht geworden sind vor glut

          und trinken wein

           

          das gedicht sagt wein vertreibe

          die angst vor der ungeschriebenen zeile

           

          aber was vertreibt die angst

          vor der geschriebenen frage ich

           

          das gedicht schweigt

          wir schauen ins feuer

           

          und schaukeln den wein

          im glas in den händen

           

                *

          Andreas Noga (* 1968)

          tag am see

           

          am ufer sitzen bis abend ist

          ich gehe in mich lasse die tür

           

          für gäste offen:

          bäume wolken geräusche

           

          ich bin ein boot werde leicht

          wenn wasser mich

           

          auf den schultern trägt

           

                     *

        Dem Autor Andeas Noga herzlichen Dank für seinen Beitrag aus dem Gedichtband

        Lücken im Lärm. Gedichte, Silver Horse Edition Marklkofen, 2010, S. 5/ 11

 

                                                             *

          Auch tagsüber nicht copyfrei:

           

        Gottfried Benn ( 1886 - 1956)

        Schöner Abend  (Ich ging den kleinen Weg, den oft begangnen)

         

        Manfred Hausmann (1898 - 1986)

        Weg in die Dämmerung

        (Bald will’s Abend sein)

         

        Rose Ausländer (1901 - 1988)

        Sang und Ozon (Staub atmet/ auf lebendem Holz)

         

        Günter Eich (1907 - 1972)

        Der Mann in der blauen Jacke

         

        Paul Celan (1920 - 1970)

        Abend der Worte ( - Rutengänger im Stillen)

         

        Jürgen Becker (* 1932)

        Sommerabend (Jemand erzählt, wie er den Hanomag fuhr.)

        Abends, gegen achtzehn Uhr (Die Sonne geht unter, sagen wir, und)

         

        Robert Gernhardt (1937 – 2006)

        Abendgedicht (Der Schatten macht den Hügel halb)

        Der Dichter (Abends zählt er seine Leiden)

         

        Doris Runge (*1943)

        der abendhimmel (ein geschlachteter hahn)

        abendsegler (ich seh/ die kleinen vampire)

                                        *

         

          Erich Adler  (*1944) ©

           Garten, Günter Eich auf dem Tisch

           

          Aus dem hohen Fliedergebüsch

          in den erwachenden Abend hinein der kurze

          Aufschrei einer fragenden

          Jungamsel

          gegen meine Resignation

          der ich die Antwort

          schuldig bleibe

           

          Proteste des Apfelbaums der

          meiner Tochter gehört und nicht mehr

          tragen will

           

          Geschmack von Weißwein im Mund

           

          Weißer Rittersporn

          vom Regen gebrochen.

                        *

           

        Wieder abgedruckt in der von Norbert Weiß herausgegebenen Zeitschrift “Signum” ,  Dresden 2017  Heft 2, S. 64

        und im Sonderheft 19. Zwischen Wunder und Sachlichkeit. Signum  Herbst 2019,   S. 104

 

 

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> In memoriam Horst Bingel